Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
mich mit den Händen von einem Auto zum nächsten hangeln. Das Metall unter meinen Fingern ist so kalt, dass es sich heià anfühlt. Als ich den Panzer über all den anderen aufragen sehe, angele ich in meiner Tasche, bis sich meine Finger um kaltes Metall und einen strassgeschmückten Schlüsselanhänger mit den Worten Bad Girl schlieÃen. Lindsays Autoschlüssel. Ich atme lautstark aus. Das zumindest ist was Gutes. Lindsay kommt ohne mich auf keinen Fall hier weg. Ihr Auto wird heute nicht auf der StraÃe fahren, egal, wie lange Juliet wartet. Trotzdem schlieÃe ich die Türen zweimal ab.
Dann bleiben auch die Autos zurück und ich schlurfe im Schneckentempo vorwärts, wobei ich mich in Gedanken verfluche, weil ich keine Taschenlampe mitgebracht habe, den 12. Februar verfluche, Juliet Sykes verfluche. Mir ist jetzt klar, dass das mit den Rosen eine doofe Idee war, sogar eine Beleidigung. Ich muss an Juliet und Lindsay vor all den Jahren da im Zelt denken, als Lindsay einen Finger hob und verängstigt und gedemütigt auf Juliet zeigte und damit alles begann. Und jahrelang hat Juliet Lindsays Geheimnis bewahrt. Ich dachte, es würde vorübergehen.
Je mehr ich darüber nachdenke â während der Regen heftig herabprasselt â, desto wütender werde ich gleichzeitig. Das hier ist doch mein Leben: das ganze groÃe ausgedehnte Chaos meines Lebens mit all seinen Möglichkeiten â erste Küsse und letzte Küsse und College und Wohnungen und Hochzeit und Streit und Entschuldigungen und Glück  â, das auf einen Punkt, eine Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde hinläuft und in jenem letzten Moment durch Juliets letzte Tat abrasiert wird: ihre Rache an uns, an mir. Je weiter ich mich von der Party entferne, desto mehr denke ich: Nein. So weit darf es nicht kommen. Egal, was wir getan haben, so weit darf es nicht kommen.
Dann wird die Zufahrt plötzlich breiter und vor mir liegt Route 9 und glänzt wie ein Fluss, flüssiges Silber, von Lichtflecken beleuchtet. Mir ist gar nicht bewusst, dass ich den Atem angehalten habe, bis ich ausatme und dankbar für das Licht nach Luft schnappe.
Ich wische mir den Regen aus den Augen, gehe nach links und suche den Waldrand nach Juliet ab. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass ihr das Gespräch mit mir geholfen hat â vielleicht ist sie ja doch nach Hause gefahren, vielleicht hat es ihr etwas bedeutet. Gleichzeitig fällt mir wieder ein, wie sie mit dieser leisen, flachen Stimme gesprochen hat, und ich weiÃ, wo immer sie in diesem Badezimmer war, bei mirganz bestimmt nicht. Sie war irgendwo verloren, gefangen in einem Nebel, der vielleicht aus Erinnerungen besteht, vielleicht auch aus all den Dingen, die anders hätten laufen können.
Hinter mir heult ein Auto auf und ich mache einen Satz. Beim Landen verliere ich den Halt und falle auf allen vieren auf das Eis, als der Wagen vorbeirast, dicht gefolgt von einem anderen Auto, dessen Motor laut wie Donner dröhnt. Dann Hupen, Geräuschwellen, die auf mich zuhalten und immer lauter werden. Ich blicke auf und sehe die Scheinwerfer eines Autos, das auf mich zukommt. Ich versuche mich zu rühren und kann nicht. Ich versuche zu schreien und kann nicht. Ich bin erstarrt, die Scheinwerfer werden so groà wie Monde, die auf mich zu schweben. Im letzten Moment schwenkt der Wagen ein Stück zur Seite und fährt so nah an mir vorbei, dass ich die Wärme des Motors spüren, die Abgase riechen und eine Liedzeile aus dem Radio dröhnen hören kann. Youâve got to fight for your right to paaaartyyy. Dann ist es weg, immer noch hupend verschwindet es in der Nacht, während die Bässe aus den Lautsprechern immer schwächer werden, ein Pulsschlag in der Ferne.
Ich habe mir die Handflächen auf dem Asphalt aufgeschürft und mein Herz klopft so schnell, dass ich ziemlich sicher bin, es springt mir gleich aus der Brust. Langsam und zitternd stehe ich auf. Ein anderes Auto fährt auf der anderen StraÃenseite vorbei. Das hier fährt im Schneckentempo und Wasser spritzt in beide Richtungen von seinen Reifen, als wären es Windmühlen.
Und dann sehe ich fünfzehn Meter vor mir eine weiÃe Gestalt aus dem Wald auftauchen und sich wie eine lange, blasse Blume aus der Hocke entfalten. Juliet. Ich gehe auf sie zu, langsam jetzt, und versuche dabei die rutschigen Platten aus dunklem Eis zu vermeiden. Sie
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