Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
dass sie mit Hochstapelei und windigen Ausreden durchs Leben kommt und so tut, als hätte sie alles unter Kontrolle, obwohl sie sich genauso durchwurstelt wie wir anderen alle. Lindsay, die auf einen losgeht, wenn man sie nur schräg von der Seite ansieht, wie einer dieser kleinen Kampfhunde, die immer bellen und schnappen, bevor sie an den Leinen zurückgerissen werden, die sie in Schach halten.
Millionen einzelner Schneeflocken drehen sich und wirbeln herum und sehen alle zusammen aus wie rollende Wellen aus WeiÃ. Ich überlege, ob es wohl stimmt, dass sie alle verschieden sind. »Juliet hatâs mir gesagt.« Ich lehne mich an die Kopfstütze und kneife die Augen zusammen, bis alles verschwindet auÃer der WeiÃheit. »Das mit der Pfadfinderinnentour. Als ihr in der fünften Klasse wart â als ihr noch befreundet wart.«
Lindsay sagt immer noch nichts, aber ich spüre, wie sie neben mir leicht zittert.
»Sie hat mir gesagt, dass in Wirklichkeit du diejenige warst, die ⦠du weiÃt schon.«
»Und du hast ihr geglaubt?«, fragt Lindsay schnell, aber sie tut es automatisch, matt, als würde sie nicht damit rechnen, dass es irgendwas nützt.
Ich antworte nicht. »WeiÃt du noch, wie sie anschlieÃend vonallen Piss-Miss genannt wurde?« Ich öffne die Augen und sehe sie an. »Warum hast du allen gesagt, dass sie es gewesen wäre? Im ersten Augenblick okay, das verstehe ich, du hattest Angst, es war dir peinlich, aber später â¦? Warum hast du es allen gesagt? Warum hast du es verbreitet?«
Lindsay zittert jetzt stärker und einen Moment denke ich, sie wird mir nicht antworten oder sie wird mich anlügen. Aber ihre Stimme ist fest, als sie spricht, fest und mit einem Unterton, den ich nicht deuten kann. Bedauern, vielleicht.
»Ich dachte immer, es würde nicht lange so weitergehen.« Sie klingt, als wunderte es sie nach all diesen Jahren immer noch. »Ich dachte, sie würde schlieÃlich allen sagen, was wirklich passiert ist. Dachte, dass sie sich wehren würde, weiÃt du?« Ihre Stimme bricht, eine Spur Hysterie schleicht sich hinein. »Warum hat sie sich nie gewehrt? Nicht ein einziges Mal. Sie ⦠sie hat es einfach geschluckt. Warum?«
Ich denke an all die Jahre, in denen Lindsay dieses geheime Wissen zurückgehalten hat, dieses geheime Ich, das jede Nacht weinte und Pipi aus Kissen schrubbte â das furchterregendste Geheimnis von allen, die Vergangenheit, die wir zu vergessen versuchen.
Und ich denke an all die Male, die ich schweigend dasaà und mich innerlich wand, voller Angst, das Falsche zu sagen oder zu tun, voller Angst, der trottelige, schlaksige, reitende Loser in mir würde auferstehen und mein neues Ich verschlingen wie eine gierige Schlange. Wie ich meine Trophäen vom Regal geräumt und meinen Sitzsack rausgeschmissen habe, lernte, wie ich mich zu kleiden hatte, und nie das warme Mittagessen bestellt habe, und vor allem lernte, mich von den Leuten fernzuhalten, die mich runterziehen und zurück an diesen Ort bringen würden. Leute wie Juliet Sykes. Leute wie Kent.
Lindsay richtet sich auf und macht die Tür auf. Ich stelle den Motor ab, steige mit ihr aus und werfe ihr die Schlüssel übers Autodach hinweg zu. Sie fängt sie mit einer Hand. Scheinwerfer leuchten hinter uns auf und ich drehe mich blinzelnd um und hebe eine Hand in Richtung des Autos. »Zwei Minuten«, sage ich lautlos.
Lindsay nickt Kent zu, der hinter uns geparkt hat und darauf wartet, mich nach Hause zu bringen. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich meine, was das Nachhausekommen und so angeht.«
»Ich bin sicher«, sage ich. Trotz allem, was heute Nacht passiert ist, erfüllt mich der Gedanke daran, auf dem Weg nach Hause ganze zwölf Minuten neben Kent zu sitzen, mit Wärme. Obwohl ich weiÃ, dass es nicht richtig ist â obwohl ich irgendwo tief in mir drin weiÃ, dass es nicht gut gehen wird, dass es für mich mit niemandem mehr gut gehen kann.
Lindsay macht den Mund auf und wieder zu. Ich kann erkennen, dass sie nach Kent fragen will, es sich dann aber anders überlegt. Sie geht aufs Haus zu, zögert und dreht sich noch mal um.
»Sam?«
»Ja?«
»Es tut mir wirklich leid ⦠all das. Es tut mir wirklich leid.«
Sie will von mir hören, dass es schon in Ordnung ist. Sie braucht diese Bestätigung. Aber ich
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