Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Elody und fängt an, in ihrer Handtasche zu wühlen. Sie haut eine Schachtel Zigaretten und zwei leere Lipgloss-Tuben raus, außerdem eine verbogene Wimpernzange. »Beinahe hätte ich dein Geschenk vergessen.«
    Sie wirft das Kondom auf den Vordersitz und Lindsay klatscht in die Hände und hüpft auf ihrem Sitz auf und ab, als ich es hochhalte.
    Â»Popp nie ohne Präser?«, sage ich und bringe ein Lächeln zu Stande.
    Elody beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange, wo ein rosa Lipgloss-Abdruck zurückbleibt. »Du machst das bestimmt ganz großartig, Kleine.«
    Â»Nenn mich nicht Kleine«, sage ich und lasse das Kondom in meine Tasche fallen. Wir steigen aus dem Wagen und die Luft ist sokalt, dass meine Augen brennen und zu tränen anfangen. Ich ignoriere das ungute Gefühl, das mich überkommt, und denke: Das ist mein Tag, das ist mein Tag, das ist mein Tag, damit ich an nichts anderes denken kann.
    EINE SCHATTENWELT
    Ich habe mal gelesen, dass man ein Déjà-vu erlebt, wenn beide Gehirnhälften Dinge verschieden schnell verarbeiten: die rechte ein paar Sekunden vor der linken oder umgekehrt. Bio ist wahrscheinlich mein schlechtestes Fach, deshalb habe ich nicht den ganzen Artikel verstanden, aber das würde das seltsame Doppelgefühl erklären, mit dem es einen zurücklässt, als würde die Welt in zwei Hälften zerfallen – oder man selbst.
    So fühle ich mich zumindest: als gäbe es ein echtes Ich und ein Abbild, und ich habe keine Ahnung, welches welches ist. Als hätte der Tag einen Schatten.
    Allerdings sind meine Déjà-vu-Erlebnisse eigentlich immer ziemlich schnell vorbei gewesen – nach dreißig Sekunden oder höchstens einer Minute.
    Aber das hier geht nicht vorbei.
    Alles ist genau gleich: Eileen Cho, die in der ersten Stunde wegen ihrer Rosen kreischt, und Samara Phillips, die sich zu ihr rüberbeugt und in schmachtendem Tonfall sagt: »Er muss dich wirklich lieben.« Ich komme in den Fluren zur selben Zeit an denselben Leuten vorbei. Richard Lint verschüttet wieder seinen Kaffee auf dem ganzen Gang und Carol Lin schreit ihn wieder an.
    Sogar ihre Worte sind dieselben: »Hat man dich als Baby einmal zu oft auf den Kopf fallen lassen, oder was?« Ich muss zugeben, dass dasziemlich witzig ist, sogar noch beim zweiten Mal. Obwohl ich das Gefühl habe, verrückt zu sein; obwohl ich das Gefühl habe, schreien zu müssen.
    Aber noch eigenartiger sind die kleinen Abweichungen und Windungen, die Dinge, die sich verändert haben. Sarah Grundel, zum Beispiel. Auf dem Weg zur zweiten Stunde sehe ich, wie sie an eine Reihe Schließfächer gelehnt dasteht, die Schwimmbrille um ihren Zeigefinger kreisen lässt und sich mit Wendy Hale unterhält. Als ich vorbeigehe, höre ich einen Teil ihres Gesprächs.
    Â»â€¦Â so aufgeregt. Ich meine, der Trainer hat gesagt, ich könnte meine Zeit noch eine halbe Sekunde verbessern …«
    Â»Es sind noch zwei Wochen bis zum Halbfinale. Das kannst du locker schaffen.«
    Ich bleibe wie angewurzelt stehen, als ich sie höre. Sarah sieht, dass ich sie anstarre, und scheint sich unbehaglich zu fühlen. Sie streicht ihre Haare glatt und zieht an ihrem Rock, der an der Taille hochgerutscht ist.
    Dann winkt sie.
    Â»Hallo, Sam«, sagt sie. Sie zieht erneut an ihrem Rock.
    Â»Habt ihr …« Ich hole tief Luft, um nicht total idiotisch herumzustottern. »Habt ihr gerade über das Halbfinale geredet? Der Schwimmmannschaft?«
    Â»Ja.« Sarahs Gesicht beginnt zu strahlen. »Kommst du?«
    Obwohl ich gerade dabei bin verrückt zu werden, muss ich trotzdem denken, dass das echt eine saublöde Frage ist. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht bei einem Schwimmwettkampf und der Gedanke, auf einem glitschigen Kachelfußboden zu sitzen und Sarah Grundel dabei zuzusehen, wie sie in einem Badeanzug herumplanscht, ist ungefähr so attraktiv wie die gebratenen Nudeln bei Hunan Kitchen .Um ehrlich zu sein, ist die einzige Sportveranstaltung, zu der ich gehe, das große Heimspiel der Football-Mannschaft, und auch nach vier Jahren habe ich die Regeln immer noch nicht begriffen. Das könnte damit zu tun haben, dass Lindsay normalerweise einen Flachmann für uns vier mitbringt.
    Â»Ich dachte, du trittst nicht an.« Ich gebe mir große Mühe, beiläufig zu klingen. »Ich hab da so ein Gerücht