Wenn ein Reisender in einer Winternacht
GEistes braucht kein großes Publikum, um sich zu offenbaren, er regt sich im Dunkeln, in der obskuren Beziehung zwischen dem Konspirationsgeheimnis und dem Polizeigeheimnis, die immer von neuem entsteht. Um ihn aufleben zu lassen, genügt meine abendliche Lektüre, meine unvoreingenommene, aber darum nicht minder aufmerksam alle erlaubten und verbotenen Implikationen auskostende Lektüre im Schein dieser Lampe, in diesem großen menschenleeren Bürogebäude, kaum daß ich meine Uniformjacke aufknöpfe und mich besuchen lasse von den Phantomen des Verbotenen, die ich tagsüber streng auf Distanz halten muß. ..«
Gib's zu, die Worte des Generaldirektors vermitteln dir ein Gefühl der Beruhigung und des Trostes. Wenn dieser Mann weiterhin Lust und Neugier auf die Lektüre empfindet, dann muß das beschriebene Papier im Umlauf noch etwas enthalten, was nicht von den allwissenden Bürokratien vorfabriziert oder manipuliert ist, dann muß es außerhalb dieser Büros noch ein Draußen geben.
»Und über die Verschwörung der Apokryphen«, fragst du mit möglichst kühl-professioneller Stimme, »sind Sie auf dem laufenden?«
»Gewiß. Ich habe mehrere Berichte darüber empfangen. Eine Zeitlang glaubten wir illusorischerweise, wir könnten alles unter Kontrolle halten. Die Geheimdienste der bedeutendsten Großmächte machten Jagd auf diese Organisation, deren Verzweigungen überallhin zu reichen schienen. Aber der Kopf der Verschwörung, der Cagliostro des Fälschens entkam uns jedesmal. Nicht daß er uns unbekannt gewesen wäre: Wir hatten alle seine Daten in unseren Karteien, er war schon seit längerem identifiziert worden - und zwar in der Person eines listenreichen und betrügerischen Übersetzers; aber die wahren Gründe seines Treibens blieben im Dunkeln. Er hatte anscheinend keine Verbindungen mehr zu den verschiedenen Sekten, in welche sich die von ihm begründete Konspiration gespalten hatte, übte aber gleichwohl noch einen indirekten Einfluß auf ihre Intrigen aus. Als es uns endlich gelang, seiner habhaft zu werden, mußten wir feststellen, daß es gar nicht so leicht war, ihn für unsere Ziele einzuspannen. Sein Motiv war weder Geldgier noch Machtgier noch Ehrgeiz: Er tat offenbar alles nur für eine Frau. Um sie zurückzuerobern, oder vielleicht auch nur, um sich an ihr zu rächen, um eine Wette mit ihr zu gewinnen. Wir mußten also zuerst diese Frau begreifen, wenn wir die Schachzüge unseres Cagliostro durchschauen wollten. Aber wir konnten nicht in Erfahrung bringen, wer sie war. Durch Deduktion fanden wir schließlich allerhand über sie heraus, aber Dinge, die ich niemals in einem offiziellen Bericht darlegen könnte: Unsere Führungsorgane sind nicht in der Lage, gewisse Feinheiten zu erfassen. «
»Für diese Frau«, fährt Arkadian Porphyritsch fort, als er sieht, mit welcher Gier du ihm jetzt die Worte geradezu von den Lippen trinkst, »heißt lesen sich von jeder vorgefaßten Absicht oder Parteinahme freimachen, um bereit zu sein für eine Stimme, die nur vernehmbar wird, wenn man sie am wenigsten zu vernehmen erwartet, eine Stimme, von der man nicht weiß, woher sie kommt, von irgendwo jenseits des Buches, jenseits des Autors, jenseits der Schreibkonventionen: aus dem Nichtgesagten, aus dem, was die Welt noch nicht über sich gesagt und zu sagen die Worte nicht hat. Er dagegen wollte ihr beweisen, daß hinter der geschriebenen Seite das Nichts ist, daß die Welt nur aus Vortäuschung, Fiktion, Mißverständnis und Lüge besteht. Wenn es weiter nichts war, konnten wir ihm leicht die Mittel verschaffen, um das zu beweisen. Ich meine wir Kollegen in den verschiedenen Ländern und Regimen, denn wir waren viele, die ihm unsere Mitarbeit anboten. Und er lehnte sie auch nicht ab, im Gegenteil. Nur wurde uns nie recht klar, ob er unser Spiel akzeptierte oder ob wir in seinem Spiel als Figuren dienten. Womöglich war er auch bloß ein Verrückter. Mir erst gelang es, sein Geheimnis zu lüften: Ich ließ ihn von unseren Agenten entführen, hierher verbringen und eine Woche lang in die Isolierzelle sperren; dann verhörte ich ihn persönlich. Es war nicht Verrücktheit, was ihn bewegte; vielleicht war es nur Verzweiflung: Die Wette mit jener Frau war längst verloren, sie war die Siegerin, ihre stets wache, wißbegierige, unersättliche Leselust hatte verborgene Wahrheiten noch in der offenkundigsten Fälschung und schlimmste Falschheiten noch in den angeblich allerwahrhaftigsten Worten zu entdecken
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