Wenn ein Reisender in einer Winternacht
heutzutage das geschriebene Wort so hochgeschätzt wie in Polizeiregimen«, sagt Arkadian Porphyritsch. »Gibt es ein besseres Kriterium zur Unterscheidung der Nationen, in denen die Literatur eine wirkliche Achtung genießt, als das der zu ihrer Kontrolle und Repression bereitgestellten Summen? Wo sie Gegenstand so großer Aufmerksamkeit ist, gewinnt die Literatur eine außerordentliche Autorität, unvorstellbar in Ländern, wo man sie als einen unschädlichen und gefahrlosen Zeitvertreib vegetieren läßt. Gewiß, auch die Repression muß Atempausen gewähren, hin und wieder ein Auge zudrücken, abwechselnd übertriebene Härte und Nachsicht üben, mit einer gewissen Unvorhersehbarkeit ihrer Launen, andernfalls bliebe nichts mehr zu reprimieren und das ganze System würde rosten mangels Gebrauch. Sagen wir's offen, jedes Regime, auch das autoritärste, kann nur in einem Zustand labilen Gleichgewichts überleben, weshalb es ständig die Existenz seines Repressionsapparates legitimieren muß, also etwas zum Reprimieren braucht. Der Wille, Dinge zu schreiben, die der etablierten Autorität Verdruß bereiten, ist eins der notwendigen Elemente zur Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichtes. Darum haben wir, auf Basis eines Geheimvertrages mit Ländern konträrer Gesellschaftsverfassung, eine gemeinsame Organisation geschaffen, in der mitzuarbeiten Sie sich intelligenterweise bereiterklärt haben, eine Art Export-Import-Organisation zwecks Ausfuhr der hier verbotenen Bücher nach dort und Einfuhr der dort verbotenen nach hier.«
»Was implizieren würde, daß die hier verbotenen Bücher dort toleriert werden und umgekehrt. «
»Wo denken Sie hin, mein Herr! Die hier verbotenen Bücher sind dort aufs allerstrengste verboten und die dort verbotenen hier erst recht! Aber aus dem Exportieren der eigenen verbotenen Bücher ins gegnerische Regime und Importieren der gegnerischen ins eigene zieht jedes Regime zumindest zwei bedeutende Vorteile: Es ermutigt die Opposition im gegnerischen Regime und konsolidiert einen nützlichen Erfahrungsaustausch zwischen den Polizeidiensten.«
»Mein Auftrag hier«, beeilst du dich zu präzisieren, »beschränkt sich ausschließlich auf Kontakte mit den Beamten der irkanischen Polizei, denn nur durch Ihre Kanäle gelangen wir in den Besitz der Schriften unserer Regimegegner.« (Du hütest dich, ihm zu sagen, daß zu den Zielen deiner Mission auch direkte Kontakte mit dem Untergrundnetz der Regimegegner in Irkanien gehören und daß du befugt bist, dein Spiel je nach Lage der Dinge zugunsten der einen gegen die anderen oder umgekehrt zu betreiben.)
»Unser Archiv steht Ihnen zur Verfügung«, sagt der Generaldirektor. »Ich könnte Ihnen sehr seltene Manuskripte zeigen, Originalfassungen von Werken, die erst veröffentlicht wurden, nachdem sie den Filter von vier bis fünf Zensurkommissionen durchlaufen hatten und jedesmal weiter beschnitten, verändert, verwässert wurden, bis sie endlich in einer verstümmelten, völlig verharmlosten, nicht mehr wiedererkennbaren Fassung erschienen. Um wirklich zu lesen, lieber Herr, muß man hierherkommen.«
»Und Sie lesen?«
»Sie meinen, ob ich außerhalb meiner beruflichen Pflichten lese? Ja, ich würde sagen, jedes Buch, jedes Dokument, jedes Corpus delicti in diesem Archiv lese ich zweimal, zweimal auf ganz verschiedene Weise. Das erste Mal rasch und kursorisch, um zu wissen, in welchem Schrank der Mikrofilm zu verwahren, unter welcher Rubrik er zu katalogisieren ist. Dann am Abend (ich pflege meine Abende nach Dienstschluß hier zu verbringen, die Umgebung ist ruhig, entspannend, Sie sehen ja) mache ich's mir auf diesem Sofa gemütlich, lege den Mikrofilm eines seltenen Manuskriptes oder einer Geheimakte in das Lesegerät und gönne mir den Luxus einer genießerischen Lektüre in kleinen Zügen, ausschließlich zu meinem Vergnügen.«
Arkadian Porphyritsch schlägt die gestiefelten Beine übereinander, fährt sich mit einem Finger zwischen den Hals und den Kragen seiner ordengeschmückten Uniform und fügt an: »Ich weiß nicht, mein Herr, ob Sie an den GEist glauben. Ich jedenfalls glaube an ihn. Ich glaube an das Zwiegespräch, das der GEist ununterbrochen mit sich selbst führt. Und ich spüre, daß dieses Zwiegespräch durch meinen Blick erfolgt, meinen Blick beim Durchmustern dieser verbotenen Seiten. Auch die POlizei ist GEist, der STaat, dem ich diene, die ZEnsur - genau wie die Texte, mit denen sich unsere Behörde befaßt. Der Hauch des
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