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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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ihn gesehen!« möchte ich sagen, doch ich bin zu erregt, um Worte hervorzubringen.
    Schweigend mit ihren Fackeln sind die Indios herzugetreten und bilden einen Kreis rings um die offene Grube.
    Aus ihrer Mitte löst sich ein Jüngling mit langem Hals, auf dem Kopf einen Strohhut mit Fransen, die Züge ähnlich wie bei den meisten in Oquedal, ich meine den Schnitt der Augen, die Nasenlinie, die Form der Lippen, ganz wie bei mir.
    »Mit welchem Recht, Nacho Zamora, hast du die Hand auf meine Schwester gelegt?« fragt er mich, und in seiner Rechten blitzt eine Klinge. Den Poncho hat er um seinen linken Arm gewickelt, ein Zipfel hängt bis auf die Erde.
    Aus den Mündern der Indios kommt ein Laut, es ist kein Murmeln, eher ein dumpfes Stöhnen.
    »Wer bist du?«
    »Ich bin Faustino Higueras. Verteidige dich!« Ich stelle mich an den Rand der Grube, wickle den Poncho um meinen linken Arm, packe das Messer.

X
    Du trinkst Tee mit Arkadian Porphyritsch, einem der feinsinnigsten Intellektuellen Irkaniens, der verdientermaßen das Amt des Generaldirektors der Staatspolizeiarchive bekleidet. Ihn solltest du gemäß deiner Order zuerst kontaktieren, unmittelbar nach deiner Ankunft in Irkanien als Reisender im Sonderauftrag des ataguitanischen Oberkommandos. Er hat dich in den behaglichen Räumen der Bibliothek seines Amtes empfangen, »der vollständigsten und modernsten Irkaniens«, wie er dir gleich erklärte, »in der die beschlagnahmten Bücher klassifiziert, katalogisiert, mikrogefilmt und aufbewahrt werden, seien sie gedruckte, hektographierte, maschinengetippte oder handgeschriebene Werke«.
    Als die Behörden Ataguitaniens, die dich in Haft hielten, dir alsbaldige Freilassung anboten, sofern du dich bereit erklärtest, für sie eine Mission in einem fernen Land zu erfüllen (eine »offizielle Mission mit geheimen Aspekten bzw. geheime Mission mit offiziellen Aspekten«), war deine erste Reaktion Ablehnung gewesen. Dein schwach ausgeprägter Hang zu Staatsaufträgen, dein Mangel an innerlicher Berufung zum Job des Geheimagenten und die dunkle, gewundene Art, in der man dir darlegte, welche Aufgaben du erfüllen solltest, waren dir Gründe genug, deine Zelle im Mustergefängnis den Ungewißheiten einer Reise in die arktischen Tundren Irkaniens vorzuziehen. Doch der Gedanke, daß du bei weiterem Verbleib in ihrer Gewalt das Schlimmste gewärtig sein mußtest, die Neugier auf diesen Auftrag, »der Sie, so nehmen wir an, in Ihrer Eigenschaft als Leser interessieren dürfte«, und die Überlegung, daß du dich zum Schein darauf einlassen könntest, um dann ihren Plan zu durchkreuzen, bewogen dich schließlich zur Annahme.
    Generaldirektor Arkadian Porphyritsch, der über deine Situation, auch die psychologische, offenbar bestens informiert ist, spricht zu dir in ermunterndem und väterlich-belehrendem Ton: »Vor allem dürfen wir eines nie aus dem Blick verlieren: Die Polizei ist eine große einheitsstiftende Kraft in einer ohne sie dem Zerfall geweihten Welt. Natürlicherweise erkennen und anerkennen daher die Polizeien verschiedener und auch verfeindeter Regime gewisse gemeinsame Interessen, in denen Zusammenarbeit geboten ist. Auf dem Gebiet der Zirkulation von Büchern. «
    »Wird man soweit gelangen, die Zensurmethoden der verschiedenen Regime zu vereinheitlichen?«
    »Nicht zu vereinheitlichen, aber ein System zu schaffen, in dem sie einander ausbalancieren und sich gegenseitig unterstützen. «
    Der Generaldirektor fordert dich auf, die große Weltkarte an der Wand zu betrachten. Das feinabgestufte Farbenschema bezeichnet:
    - die Länder, in denen alle Bücher systematisch beschlagnahmt werden;
    - die Länder, in denen nur die vom Staat publizierten oder genehmigten Bücher zirkulieren dürfen;
    - die Länder, in denen eine grobe, summarische und unberechenbare Zensur herrscht;
    - die Länder, in denen die Zensur feinnervig, gebildet, sensibel für die unterschwelligen Implikationen und Assoziationen ist und von ebenso peniblen wie raffinierten Intellektuellen ausgeübt wird;
    - die Länder, in denen es zwei Distributionsnetze gibt, ein legales und ein clandestines;
    - die Länder, in denen es keine Zensur gibt, weil es keine Bücher gibt, aber viele potentielle Leser;
    - die Länder, in denen es keine Bücher gibt und niemand ihr Fehlen beklagt;
    - die Länder schließlich, in denen jeden Tag Bücher für jeden Geschmack und jede Geistesrichtung erscheinen bei allgemeiner Gleichgültigkeit.
    »Nirgendwo wird

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