Wenn ein Reisender in einer Winternacht
dir immer um mindestens einen Schritt voraus. »Es freut mich zu wissen, daß es Bücher gibt, die ich noch richtig lesen kann. «, sagt sie, überzeugt, daß der Kraft ihres Wunsches real vorhandene, greifbare, wenn auch noch unbekannte Gegenstände entsprechen müssen. Wie wirst du Schritt halten können mit dieser Frau, die immer bereits ein anderes Buch liest, eins über das hinaus, das sie gerade vor Augen hat, ein Buch, das noch nicht existiert, das aber kraft ihres Willens einfach existieren muß?
Der Professor sitzt hinter seinem Schreibtisch; im Lichtkegel einer Tischlampe legen sich seine Hände sanft und beinahe traurig auf das zugeschlagene Buch, als wollten sie es liebkosen.
»Lesen«, sagt er, »ist immer dies: Man hat ein Ding vor sich liegen, eine Sache, die aus Geschriebenem besteht, einen materiellen, greifbaren Gegenstand, der sich nicht ändern läßt, und durch diesen Gegenstand wird man unversehens auf etwas anderes gestoßen, etwas, das nicht gegenwärtig ist, das zur immateriellen Welt gehört, unsichtbar, weil nur denkbar, nur vorstellbar, oder weil einst vorhanden gewesen, aber längst nicht mehr da, vergangen, verloren, fort, unerreichbar im Lande der Toten. «
»... oder nicht gegenwärtig, weil noch nicht da, etwas, das nur herbeigewünscht oder gefürchtet wird, etwas Mögliches oder Unmögliches«, sagt Ludmilla. »Lesen ist auf etwas zugehen, das gerade entsteht und von dem noch keiner weiß, was es sein wird. « (Schau, wie die Leserin sich jetzt vorbeugt, um über den Rand der gedruckten Seite hinauszuspähen, weit hinaus nach den rettenden oder feindlichen Schiffen am Horizont, nach den Stürmen, die sich zusammenbrauen. ) »Das Buch, das ich jetzt gern lesen möchte, ist ein Roman, in dem man die Geschichte herannahen hört wie ein fernes Grollen, die Weltgeschichte zusammen mit dem Geschick der Personen, ein Roman, der mir das Gefühl gibt, eine noch namenlose, noch formlose Umwälzung zu erleben. «
»Bravo, Schwesterchen, ich sehe, du machst Fortschritte!« Zwischen den Bücherregalen ist eine junge Frau mit langem Hals und Vogelgesicht erschienen, die Augen kühl und bebrillt, das Kraushaar groß um den Kopf, bekleidet mit einer weiten Bluse und engen Hosen. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich den Roman gefunden habe, den du suchst, und es ist genau der richtige für unser Seminar über die Frauenrevolution, du bist eingeladen, wenn du zuhören willst, wie wir ihn analysieren und diskutieren.«
»Lotaria, willst du mir etwa sagen«, ruft Ludmilla verblüfft, »daß auch du bei diesem Buch angelangt bist, bei Über den Steilhang gebeugt, dem unvollendeten Roman des kimmerischen Autors Ukko Ahti?«
»Du bist schlecht informiert, Ludmilla, es handelt sich zwar genau um diesen Roman, aber er ist nicht unvollendet, im Gegenteil, er wurde auch nicht in kimmerischer, sondern in kimbrischer Sprache geschrieben, der Titel wurde später geändert in Ohne Furcht vor Schwindel und Wind, und der Autor hat dann dafür einen anderen Namen benutzt, nämlich das Pseudonym Vorts Viljandi.«
»Eine Fälschung!« schreit Uzzi-Tuzii erregt. »Ein bekannter Fall von böswilliger Unterschiebung! Es handelt sich um apokryphe Schriften, die von kimbrischen Nationalisten im Zuge der antikimmerischen Propaganda am Ende des Zweiten Weltkriegs verbreitet worden sind!«
Hinter Lotaria drängen die Vorposten einer Schar junger Frauen herein; sie haben helle und ruhige Augen, ein bißchen alarmierende Augen, vielleicht weil sie allzu hell und ruhig sind. Ein Mann tritt zwischen ihnen hervor, bleich und bärtig, mit sarkastischem Blick und einem systematisch desillusionierten Zug um die Mundwinkel.
»Ich bin untröstlich, einem illustren Kollegen widersprechen zu müssen«, sagt er, »aber die Echtheit dieses Textes steht außer Zweifel, sie wurde bewiesen durch die Entdeckung der von den Kimmerern unterschlagenen Manuskripte!«
»Ich bin überrascht, Galligani«, seufzt Uzzi-Tuzii, »daß du die Autorität deines Lehrstuhls für herulo-altaische Sprachen und Literatur einem derart plumpen Schwindel leihst! Einem Schwindel, der noch dazu mit Gebietsforderungen verbunden ist, die nichts mit Literatur zu schaffen haben!«
»Uzzi-Tuzii, ich bitte dich«, erwidert der Angesprochene, »laß deine Polemik nicht auf dieses Niveau absinken! Du weißt genau, daß der kimbrische Nationalismus meinen Interessen so fern liegt wie hoffentlich der kimmerische Chauvinismus den deinen! Vergleicht man den
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