Wenn ein Reisender in einer Winternacht
weiter, zeigt keine Verwunderung über die Anwesenheit der neuen Zuhörerin, als wäre sie immer schon dagewesen. Auch zuckt er nicht zusammen, als sie, während er gerade eine etwas längere Pause macht, in die Stille hinein voller Ungeduld fragt: »Und weiter?«
Hart klappt der Professor das Buch zu. »Weiter nichts. Über den Steilhang gebeugt bricht hier ab. Nach der Niederschrift dieser ersten Seiten seines Romans verfiel Ukko Ahti in jene tiefe Depression, die ihn im Laufe weniger Jahre zu drei gescheiterten Selbstmordversuchen trieb, bis ein vierter gelang. Das Fragment wurde in der Sammlung seiner posthumen Schriften veröffentlicht, neben verstreuten Gedichten, einem intimen Tagebuch und Ansätzen zu einer Studie über die Inkarnationen Buddhas. Leider haben sich keinerlei Skizzen oder Notizen gefunden, aus denen hervorgeht, wie Ahti sich die Weiterentwicklung der Geschichte vorgestellt hatte. Doch trotz
- oder vielleicht gar wegen - seiner Unvollständigkeit ist Über den Steilhang gebeugt das repräsentativste Stück Prosa der ganzen kimmerischen Literatur, exemplarisch in seiner Aussage wie auch, mehr noch, in seiner Verschwiegenheit, in seinem Sichentziehen, Verstummen, Verschwinden...«
Des Professors Stimme scheint zu verlöschen. Du reckst den Hals, um dich zu vergewissern, daß er noch da ist hinter der Trennwand des Bücherregals, das ihn deinen Blicken entzieht, aber du kannst ihn nicht mehr entdecken, vielleicht hat er sich in das Dickicht der akademischen Publikationen verkrochen, in die staubigen Ritzen zwischen den Zeitschriftenbänden verflüchtigt, vielleicht ist er mitgerissen worden vom Schicksal seiner dem Schwund verfallenen Studienobjekte, verschlungen vom gähnenden Abgrund des jäh abgebrochenen Romans... Am Rand dieses Abgrunds möchtest du Halt finden, um dich über den Steilhang zu beugen, möchtest Ludmilla festhalten oder dich an sie klammern, bang suchend tasten deine Hände nach ihren Händen.
»Fragt nicht, wo dieses Buch weitergeht!« tönt es schrill von irgendwo aus den Bücherregalen. »Alle Bücher gehen drüben weiter. « Die Stimme schwillt an und ab. Wo steckt der Professor? Wälzt er sich unter dem Schreibtisch? Baumelt er an der Deckenleuchte?
»Wo gehen sie weiter?« fragt ihr, an den Rand des Abgrunds geklammert. »Wo drüben?«
»Die Bücher sind die Stufen zur Schwelle. Alle kimmerischen Dichter haben sie überschritten. Dahinter beginnt die wortlose Sprache der Toten. die sagt, was nur die Sprache der Toten zu sagen vermag. Das Kimmerische ist die letzte Sprache der Lebenden. ja, die Sprache der Schwelle! Hierher kommt man, um nach drüben zu lauschen. Hört hin. «
Doch ihr hört nicht mehr hin, ihr beiden, ihr hört überhaupt nichts mehr. Ihr seid gleichfalls verschwunden, ihr habt euch in einen Winkel verdrückt, ihr schmiegt euch eng aneinander. Ist das eure Antwort? Wollt ihr beweisen, daß auch die Lebenden eine wortlose Sprache haben, mit der man nicht Bücher schreiben, sondern die man nur leben kann, Sekunde um Sekunde lebendig erleben, nicht aufzeichnen noch im Gedächtnis bewahren? Zuerst kommt diese wortlose Sprache der lebenden Körper - ist das der Grundgedanke, den ihr dem Professor klarmachen wollt? - und dann erst kommen die Worte, mit denen man Bücher schreibt und sich vergeblich bemüht, jene erste Sprache zu übersetzen, und dann.
»Alle kimmerischen Bücher sind unvollständig...«, seufzt der Professor, »denn alle gehen sie drüben weiter, in jener anderen Sprache, in jener schweigenden Sprache, auf welche all die Worte verweisen, die wir in den Büchern zu lesen glauben. «
»Glauben? Wieso nur glauben? Ich habe Freude am Lesen, ich lese gern richtig. « Es ist Ludmilla, die da so spricht, mit Überzeugung und Wärme. Sie sitzt dem Professor entspannt gegenüber, einfach und elegant gekleidet in helle Farben. Ihre handfeste Art, auf der Welt zu sein, voller Interesse für alles, was ihr die Welt zu bieten hat, verscheucht den egozentrischen Abgrund des selbstmörderischen Romans, der sich am Ende selber verschlingt. In ihrer Stimme suchst du Bestätigung für dein Bedürfnis, dich an die real vorhandenen Dinge zu halten und einfach zu lesen, was dasteht, basta, weg mit all den Gespenstern, die sich dir zwischen den Fingern verflüchtigen! (Und hat auch eure Umarmung eben - gib's zu! - nur in deiner Einbildung stattgefunden, so ist sie doch immerhin eine Umarmung, die jeden Augenblick wahr werden kann. )
Doch Ludmilla ist
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