Wenn ein Reisender in einer Winternacht
zurückgekehrt war, warum konnten wir uns dann nicht wie gewöhnlich sehen? Und wenn er noch nicht zurückgekehrt war, wem würde ich dann auf dem Friedhof begegnen?
Am Tor war der Totengräber, den ich schon aus der Schenke kannte. »Ich suche Herrn Kauderer«, sagte ich.
Er antwortete: »Herr Kauderer ist nicht da. Aber schließlich ist ja der Friedhof die Wohnung derer, die nicht da sind, also treten Sie ein.«
Ich schritt langsam zwischen den Gräbern voran, da streifte mich plötzlich ein rascher raschelnder Schatten. »Herr Kauderer!« rief ich, verwundert, ihn hier mit dem Fahrrad ohne Licht zwischen den Grabsteinen umherfahren zu sehen.
»Psst!« hieß er mich schweigen. »Sie sind sehr unvorsichtig! Als ich Ihnen neulich die Wetterstation anvertraute, dachte ich nicht, daß Sie sich mit einem Fluchtversuch kompromittieren würden. Für individuelle Fluchtversuche haben wir hier nichts übrig. Man muß die Zeit reifen lassen. Wir haben weiterreichende Pläne, auf längere Sicht.«
Als ich ihn so mit einer weitausholenden Geste »wir« sagen hörte, dachte ich, daß er im Namen der Toten spreche. Ja, die Toten, deren Sprachrohr Herr Kauderer so offensichtlich war, gaben mir durch ihn zu verstehen, daß sie mich noch nicht in ihren Reihen empfangen wollten. Ich empfand eine spürbare Erleichterung.
»Es ist auch Ihre Schuld, daß ich jetzt noch länger wegbleiben muß«, fuhr er fort. »Morgen oder übermorgen wird der Polizeikommissar Sie vorladen und wegen des Ankers verhören. Passen Sie auf, daß Sie mich nicht in diese Sache hineinziehen; denken Sie immer daran, daß alle Fragen des Kommissars darauf abzielen werden, von Ihnen etwas über mich zu erfahren. Sie wissen nichts über mich, außer daß ich für ein paar Tage verreist bin und nicht gesagt habe, wann ich wiederkomme. Sie können sagen, daß ich Sie bloß gebeten habe, ein paar Tage lang für mich die Daten abzulesen, aber wohlgemerkt nur ein paar Tage lang. Im übrigen sind Sie von Ihrem Dienst an der Wetterstation ab sofort entbunden.«
»Nein, das nicht!« rief ich aus, von einer jähen Verzweiflung gepackt, als wäre mir gerade aufgegangen, daß allein die Kontrolle der meteorologischen Instrumente mich in die Lage versetzte, die Kräfte des Universums zu meistern und darin eine Ordnung zu erkennen.
Sonntag. In aller Frühe bin ich zur Wetterstation gegangen, auf die Plattform gestiegen und dort geblieben, um dem Ticken der Instrumente zu lauschen wie einer Sphärenmusik. Der Wind trieb flockige Wölkchen über den Morgenhimmel, die sich langsam zu streifigen Cirrus-Schleiern verdichteten und dann zu Cumulus-Schichten türmten; gegen halb zehn gab es einen Regenschauer, von dem der Niederschlagsmesser einige Zentiliter bewahrte; kurzzeitig folgte ein unvollständiger Regenbogen; dann verdunkelte sich der Himmel, der Schreibarm des Druckmessers fiel rapide und machte eine fast senkrechte Linie; Donner krachte und Hagel prasselte los. Mir war da oben auf meiner Plattform, als hätte ich Stürme und Sonnenschein, Blitze und Finsternis in meiner Hand - nein, nicht wie ein Gott, man halte mich nicht für einen Narren, ich fühlte mich nicht wie ein donnernder Zeus, wohl aber ein bißchen wie ein Dirigent, der eine ausgeschriebene Partitur vor sich hat und weiß, daß die Töne aus den Instrumenten einem bestimmten Plan entsprechen, dessen Erfüllung in erster Linie von ihm abhängt. Das Blechdach erdröhnte unter den Schlägen des Hagels wie eine Trommel, der Windmesser raste; das Universum, ganz Toben und Aufruhr, war übersetzbar in Ziffern und Zahlenreihen, bereit zur Eintragung in mein Register: Eine souveräne Ruhe beherrschte das Wüten der Kataklysmen.
In diesem Moment des Einklangs und der Erfüllung ließ mich ein leises Knirschen hinuntersehen. Zusammengekauert zwischen den Stufen zur Plattform und den Stützen des Daches hockte ein bärtiger Mann in einer groben, vom Regen durchweichten Streifenjacke. Er sah mich an mit ruhigem, klarem Blick.
»Ich bin auf der Flucht«, sagte er. »Verraten Sie mich nicht. Sie müssen jemanden benachrichtigen. Wollen Sie das tun? Die betreffende Person wohnt im Hotel Meereslilie.«
Jäh durchzuckte es mich: In der perfekten Ordnung des Universums hatte sich eine Kluft auf getan, ein unheilbarer Riß.
IV
Zuhören, wie jemand vorliest, ist etwas ganz anderes als selber lesen. Wenn du selber liest, kannst du dir Zeit nehmen oder die Sätze rasch überfliegen - du bist es, der das Tempo
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