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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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beten, und als wir so stürmisch dahermarschiert kamen, hätten wir sie fast umgerannt. Sie reckte uns eine kleine gelbe hagere Faust entgegen, runzlig wie eine Kastanie, schlug mit der anderen Faust aufs Pflaster und rief: »Verfluchte Herren!« oder eher: »Verflucht! Ihr Herren!« - es klang, als wären es zwei sich steigernde Flüche, als wollte sie uns, indem sie uns »Herren« nannte, gleich zweimal verfluchen; es folgte ein Ausdruck im Dialekt, der etwa soviel wie »Bordellgesindel« bedeutet, und noch etwas wie: »Ein böses Ende wird's nehmen. «, aber da erkannte sie meine Uniform und verstummte gesenkten Hauptes.
    Ich berichte hier so ausführlich von diesem Vorfall, weil er - nicht sofort, aber später - als böses Vorzeichen angesehen wurde, als Warnung vor all dem, was noch geschehen sollte, aber auch, weil die Bilder aus jenen Tagen hier nun die Seiten des Buches durchziehen müssen wie damals die Militärkonvois die Straßen der Stadt (und mag auch das Wort »Militärkonvoi« nur vage Bilder heraufbeschwören, so schadet es nichts, wenn eine gewisse Unentschiedenheit in der Luft hängenbleibt, denn sie paßt zur Konfusion jener Tage); wie auch die von Haus zu Haus quer über die Straßen gespannten Transparente mit Aufrufen an die Bevölkerung, sofort und massenhaft die Staatsanleihe zu zeichnen; wie auch die Umzüge demonstrierender Arbeiter, deren Wege sich nicht überkreuzen dürfen, da sie von rivalisierenden Gewerkschaftsverbänden organisiert worden sind, wobei die einen für unbegrenzte Fortsetzung des Streiks in den Munitionsfabriken Kauderer demonstrieren, die anderen statt dessen für sofortigen Abbruch des Streiks zwecks rascher Bewaffnung des Volkes gegen die konterrevolutionären Armeen, die sich rings um die Stadt zusammenziehen. All diese kreuz und quer durcheinanderschießenden Linien müßten den Raum begrenzen, in welchem wir uns bewegen, ich, Valerian und Irina, in welchem unsere Geschichte auftauchen kann aus dem Nichts, einen Ausgangspunkt finden, eine Richtung und einen Plan.
    Kennengelernt hatte ich Irina an jenem Tage, da die Front kaum zwölf Kilometer vor dem Osttor zusammengebrochen war. Während die Stadtmilizen - Jungen unter achtzehn und alte Reservisten - sich rings um die flachen Bauten des Rinderschlachthofes eingruben - ein Ort, dessen bloßer Name schon Unheil verhieß, nur daß man noch nicht wußte, für wen -, ergoß sich ein Strom von Flüchtenden über die Eiserne Brücke ins Zentrum der Stadt. Bäuerinnen, die auf den Köpfen große Körbe trugen, aus denen Gänse herausschauten, Schweine, die hysterisch quiekend zwischen den Beinen der Menschen entflohen, verfolgt von schreienden Kindern (die Hoffnung, etwas von ihrer Habe vor den militärischen Requisitionen zu retten, trieb die Dörfler dazu, ihre Kinder und Tiere so weit wie möglich im Land zu verstreuen und auf gut Glück ihrem Schicksal zu überlassen), Soldaten, zu Fuß oder hoch zu Pferde, die von ihren Einheiten desertiert waren oder das Gros der versprengten Truppen zu erreichen suchten, alte Gräfinnen und Baronessen mit ganzen Karawanen von Dienerinnen und Gepäck, Sanitäter mit ihren Tragen, Kranke, die aus dem Lazarett entlassen waren, fliegende Händler, Beamte, Mönche, Zigeuner, Schülerinnen des aufgelösten Internats Für Höhere Offizierstöchter in Reisekleidern - sie alle drängten sich zwischen den Brückengeländern, wie vorwärtsgetrieben von jenem naßkalten Wind, der gleichsam aus den Rissen in der Landkarte, aus den Breschen in den zerstückelten Fronten und Grenzen zu wehen schien. Es waren allerhand Leute in jenen Tagen, die Zuflucht suchten in unserer Stadt: Die einen fürchteten ein noch weiteres Umsichgreifen der Rebellionen und Plünderungen, die anderen hatten gute Gründe, den vorrückenden Armeen der Reaktion aus dem Weg zu gehen; die einen suchten Schutz unter der brüchigen Legalität des Provisorischen Rates, die anderen wollten nur in der allgemeinen Verwirrung untertauchen, um ungestört die Gesetze zu brechen, gleich ob die alten oder die neuen. Doch jeder spürte, daß es um sein persönliches Überleben ging, und so kam es, daß sich auch dort, wo von Solidarität zu sprechen ganz fehl am Platze schien, weil es allein darauf ankam, sich durchzusetzen mit Zähnen und Klauen, bisweilen doch eine Art von Gemeinschaftlichkeit und Einvernehmen bildete, so daß man die Hindernisse mit vereinten Kräften anging und sich ohne viele Worte verstand.
    Dies mag es gewesen sein

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