Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Sensibilität der verfügbaren Testperson; sie muß außerdem über gute Sehkraft und starke Nerven verfügen, damit wir sie der ununterbrochenen Lektüre von Romanen und Romanvarianten, wie sie der Elaborator auswirft, aussetzen können. Erreicht die Leseintensität bestimmte Grade in einer bestimmten Kontinuität, so ist das Produkt okay und kann auf den Markt geworfen werden; erlahmt jedoch die Aufmerksamkeit oder schweift sie ab, so muß die Kombination ausgesondert und demontiert werden, um die Elemente anderswo neu zu verwenden. Der Mann im weißen Kittel reißt ungeduldig ein Enzephalogramm nach dem anderen ab, als wären es Kalenderblätter. >Es wird immer schlimmer<, schimpft er. >Kein Roman kommt mehr raus, der noch was taugt. Entweder muß das Programm revidiert werden, oder die Leserin ist verbraucht e Ich betrachte ihr schmales Gesicht zwischen den Scheuklappen und dem Blendschutz, es zeigt keine Regung, auch wegen der Tampons in ihren Ohren und der Halsstütze, die ihr Kinn immobilisiert. Welches Schicksal mag sie erwarten?«
Nirgendwo findest du eine Antwort auf diese Frage, die Marana fast beiläufig fallengelassen hat. Mit angehaltenem Atem hast du von Brief zu Brief die Transformationen der Leserin verfolgt, als handle es sich in jedem Falle um ein und dieselbe Person. Doch selbst wenn es lauter verschiedene wären, jeder von ihnen gibst du die Züge Ludmillas. War sie es nicht, die behauptet hatte, man könne heutzutage von einem Roman nur noch verlangen, daß er einen Untergrund verborgener Ängste weckt, als letzte Bedingung der Wahrheit, die ihn dem sonst unausweichlichen Schicksal der Serienprodukte enthebt? Nackt am Strand unter der Äquatorsonne erscheint dir Ludmillas Bild schon glaubwürdiger als hinter dem Schleier der Sultanin, aber es könnte auch beide Male ein und dieselbe Mata Hari sein, die versunken durch die außereuropäischen Revolutionen wandelt, um den Weg zu öffnen für die Bulldozer einer Baufirma. Du verjagst das Bild und vertauschst es gegen das der Frau auf dem Liegestuhl, das dir durch die klare Alpenluft entgegenkommt. Schon bist du bereit, hier alles stehen- und liegenzulassen, abzureisen und Flannerys Refugium aufzuspüren, bloß um durchs Fernglas die lesende Frau zu betrachten oder ihre Spuren im Tagebuch des krisengeschüttelten Romanciers zu suchen (oder verlockt dich jetzt eher der Gedanke an die Möglichkeit einer Fortsetzung der Lektüre von Schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet, sei's auch unter einem anderen Titel und signiert von einem anderen Autor?). Doch die Nachrichten von Marana werden immer beklemmender: Erst hockt die Leserin als Geisel auf einem Flugplatz im afrikanischen Busch, dann gar als Gefangene in einem Slum von Manhattan. Wie ist sie dorthin gekommen, angekettet auf einen Folterstuhl? Warum muß sie auf einmal als Strafe erleiden, was ihre natürliche Lebensform ist: das Lesen? Und welcher verborgene Plan bewirkt, daß sie einander ständig über den Weg laufen: die Leserin, Marana und diese geheimnisvolle, auf Manuskripte versessene Sekte?
Soviel du den verstreuten Hinweisen in den Briefen entnehmen kannst, hat sich die Organization of Apocryphal Power, von inneren Kämpfen zerrissen und der Kontrolle ihres Gründers Ermes Marana entglitten, in zwei Fraktionen gespalten: in eine Sekte von Erleuchteten, angeführt vom Erzengel des Lichtes, und eine Sekte von Nihilisten unter dem Kommando des Archonten der Finsternis. Erstere sind überzeugt, daß unter den zahllosen falschen Büchern, von denen die Welt überschwemmt wird, die wenigen echten zu finden seien, die eine womöglich außermenschliche oder außerirdische Wahrheit enthalten. Letztere meinen, daß nur die Fälschung, die Mystifikation und die bewußte Lüge imstande seien, in einem Buch den höchsten, absolut unübertrefflichen Wert darzustellen: eine nicht von den herrschenden Pseudowahrheiten infizierte Wahrheit.
»Ich dachte, ich sei allein im Fahrstuhl«, schreibt Marana wiederum aus New York, »da erhebt sich neben mir eine Gestalt: ein junger Mann mit einer baumkronenartigen Mähne, der in einer Ecke gekauert hatte, versteckt unter Tüchern aus grobem Leinen. Mehr als ein Personenfahrstuhl ist dies ein Lastenaufzug in Form eines Käfigs, der durch ein zusammenschiebbares Gitter verschlossen wird. Auf jedem Stockwerk schaut man in eine Flucht leerer Räume, verblichene Wände mit Spuren von verschwundenen Möbeln und herausgerissenen Installationen, eine
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