Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Aufteilung von Energiequellen.
Hastig durchsuchst du Maranas Briefe nach neueren Nachrichten über die Sultanin. Andere Frauengestalten treten daraus hervor und verschwinden wieder:
auf der Insel im Indischen Ozean, eine Badende, »bekleidet mit einer Sonnenbrille und einer Schicht Nußöl, hält zwischen sich und die Strahlen der Hundstagesonne den dünnen Schutzschild eines populären New Yorker Wochenmagazins«. Die Nummer, in der sie liest, bringt als Vorabdruck den Anfang des neuen Thrillers von Silas Flannery. Marana erklärt ihr, das Erscheinen des ersten Kapitels in einem solchen Publikumsmagazin sei das Zeichen für die Bereitschaft des irischen Romanciers, Verträge mit interessierten Firmen abzuschließen betreffend die Erwähnung von bestimmten Whisky- oder Champagnermarken, Automodellen und touristischen Attraktionen in seinem neuen Roman. »Anscheinend wird seine Phantasie in dem Maße beflügelt, wie er Werbeaufträge erhält.« Die Frau ist enttäuscht: Sie ist eine begeisterte Leserin von Silas Flannery. »Am liebsten mag ich die Art Romane«, sagt sie, »die einem gleich auf der ersten Seite so ein Gefühl des Unbehagens vermitteln. «
von der Terrasse des Chalets in der Schweiz beäugt Silas Flannery durch ein Fernglas, das auf ein Stativ montiert ist, eine junge Frau in einem Liegestuhl, beschäftigt mit der Lektüre eines Buches, auf einer anderen Terrasse zweihundert Meter weiter unten im Tal. »Jeden Tag liegt sie da«, sagt der Schriftsteller, »immer wenn ich mich an den Schreibtisch setzen will, habe ich das Bedürfnis, sie zu betrachten. Wer weiß, was sie da liest? Ich weiß nur, daß es kein Buch von mir ist, und ich leide darunter, instinktiv, ich empfinde die Eifersucht meiner Bücher, die so gelesen werden wollen, wie diese Frau dort liest. Ich werde nicht müde, sie zu betrachten: Sie scheint in einer anderen Sphäre zu leben, abgehoben, schwebend in einer anderen Zeit und in einem anderen Raum. Ich setze mich an den Schreibtisch, aber keine Geschichte, die ich erfinde, entspricht dem, was ich ausdrücken möchte.« Marana fragt ihn, ob das der Grund seiner Schreibhemmung sei. »Aber nein, ich schreibe ja!« antwortet er. »Jetzt endlich schreibe ich, erst jetzt, seit ich sie betrachte. Ich verfolge nur einfach die Lektüre dieser Frau, wie ich sie von hier aus sehe, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ich lese in ihrem Gesicht, was sie lesen möchte, und schreibe es nieder, so treu wie möglich. «
»Allzu treu«, unterbricht ihn Marana eisig. »Als Übersetzer und Vertreter der Interessen Bertrand Vanderveldes, dessen Roman Schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet die Frau dort liest, muß ich Sie dringend davor warnen, ihn weiter zu plagiieren!« Flannery erbleicht; nur ein Gedanke scheint ihn zu beschäftigen: »Dann meinen Sie also, die Leserin dort. die Bücher, die sie so leidenschaftlich verschlingt, sind Romane von Vandervelde?! Das ertrage ich nicht. «
auf dem Rollfeld im afrikanischen Busch, zwischen den Geiseln der Flugzeugentführung, die wartend am Boden liegen, sich Luft zufächelnd oder zusammengekauert unter den Plaids, die beim plötzlichen Einbruch der Nachtkälte von den Hostessen ausgeteilt worden sind, bewundert Marana den Gleichmut eines etwas abseits hockenden Mädchens; ihre Arme umschlingen die unter dem langen Rock zu einem Lesepult hochgezogenen Knie, ihr welliges Haar fällt auf die Seiten des Buches und verdeckt ihr Gesicht, mit der freien Hand blättert sie um, als würde sich alles, was von Bedeutung ist, im nächsten Kapitel entscheiden. »In dem allgemeinen Verfall, den die anhaltende und promiskue Gefangenschaft unserem Äußeren und Verhalten aufzwingt, scheint mir diese junge Frau geschützt, isoliert, eingekapselt wie auf einem fernen Mond. « In diesem Augenblick denkt Marana: Ich muß die Luftpiraten der OAP davon überzeugen, daß sie hinter dem falschen Buch her sind. Das Buch, um dessentwillen sich ihre riskante Operation wirklich lohnen würde, ist nicht jenes, das sie mir abgenommen haben, sondern dieses dort, das sie liest.
in New York, im Testraum der OEPHLW, sitzt die Leserin auf dem Prüfstuhl, die Handgelenke an die Lehnen gefesselt, umgeben von Manometern und Stethoskopen, die Schläfen eingespannt in die Lockenkrone der verschlungenen Drähte eines Elektroenzephalographen, der die Intensität ihrer Konzentration und die Frequenz ihrer Stimuli anzeigt. »Unsere ganze Arbeit ist abhängig von der
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