Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Wüstenlandschaft aus schimmligen Böden und Decken. Fuchtelnd mit roten Händen an langen Gelenken stoppt der Junge den Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken.
>Her mit dem Manuskript! Uns hast du es gebracht, nicht den anderen. Auch wenn du das Gegenteil glaubst. Dies ist ein wahres Buch, egal wie viele falsche sein Autor geschrieben hat. Darum gehört es uns!<
Mit einem Judogriff schleudert er mich zu Boden und entreißt mir das Manuskript. Ich begreife sofort, daß dieser fanatische Junge glaubt, er habe das Tagebuch von Silas Flannerys Schaffenskrise in Händen und nicht den Aufriß zu einem seiner üblichen Thriller. Enorm, mit welcher Hellhörigkeit diese Geheimsekten jede Nachricht auffangen, ob wahr oder falsch, die irgendwie auf der Linie ihrer Erwartungen liegt. Flannerys Krise hatte die beiden Flügel der Apokryphen Macht sofort mobilisiert, beide hatten, mit entgegengesetzten Hoffnungen, unverzüglich ihre Spürhunde in die Alpentäler rings um das Chalet des Erfolgsautors losgelassen. Als sie erfuhren, daß der Großproduzent von Serienromanen nicht mehr an seine Produkte glauben konnte, meinten die vom Schattenflügel, sein nächster Roman werde nun den Sprung von der relativen und gewöhnlichen Unredlichkeit zur absoluten und essentiellen Unredlichkeit vollziehen und damit zum Meisterwerk der Falschheit als Wissen avancieren, also zu dem seit langem von ihnen gesuchten Buch. Die vom Lichtflügel meinten dagegen, aus der Krise eines solchen Profis der Lüge könne nichts anderes hervorgehen als eine Eruption der Wahrheit, und eben diese zeige sich in des Schriftstellers vielberedetem Tagebuch. Als Flannery dann das Gerücht ausstreute, ich hätte ihm ein wichtiges Manuskript entwendet, erblickten beide Flügel darin den Gegenstand ihrer Suche und setzten sich unverzüglich auf meine Spur, der Wing of Shadow entführte das Flugzeug und der Wing of Light nun den Fahrstuhl.
Der Typ mit der Baumkronenmähne hat sich das Manuskript in die Jacke geschoben, schlüpft aus dem Fahrstuhl, schlägt mir die Gittertür vor der Nase zu und drückt auf den Knopf, um mich in die Tiefe verschwinden zu lassen. Als letzte Drohung ruft er mir nach: >Denk bloß nicht, daß unsere Partie mit dir schon zu Ende ist, Agent der Mystifikation! Erst müssen wir noch unsere Schwester aus der Fälschermaschine befreien!< Ich lache, während ich langsam versinke: >Es gibt keine Maschine, du Milchbart! Es ist der Vater der Erzählungen, der uns die Bücher diktiert!<
Er holt den Fahrstuhl zurück. >Was sagst du da, der Vater der Erzählungen?< fragt er erbleichend. Seit Jahren suchen diese Sektierer fieberhaft nach dem blinden Greis in allen Kontinenten, wo seine Legende tradiert wird.
Jawohl, geh und sag's dem Erzengel des Lichts! Sag ihm, daß ich den Vater der Erzählungen gefunden habe! Er ist in meiner Hand und arbeitet für mich! Da pfeif ich auf alle Computer!< - und diesmal bin ich's, der auf den Abwärtsknopf drückt. «
Drei Wünsche streiten sich jetzt in deiner Brust. Du wärst bereit, sofort aufzubrechen, übers Meer zu fliegen und den Kontinent unter dem Kreuz des Südens so lange zu durchforschen, bis du das letzte Versteck dieses Ermes Marana aufgespürt hast, um ihm die Wahrheit zu entreißen oder zumindest die Fortsetzung der abgebrochenen Romane. Zugleich willst du Cavedagna bitten, dir jetzt sofort den Roman In einem Netz von Linien, die sich verknoten des falschen (oder echten?) Flannery auszuleihen, der womöglich identisch ist mit dem Roman Schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet des echten (oder falschen?) Vandervelde. Und bei alledem kannst du es kaum noch erwarten, in das Cafe zu eilen, wo du mit Ludmilla verabredet bist, um ihr die krausen Ergebnisse deiner Nachforschung zu berichten und dich durch ihren Anblick davon zu überzeugen, daß es nichts Gemeinsames geben kann zwischen ihr und den Leserinnen in der Welt des mythomanischen Übersetzers.
Die beiden letzten Wünsche sind relativ leicht zu erfüllen und schließen einander nicht aus. Im Cafe, wo du auf Ludmilla wartest, vertiefst du dich in die Lektüre des von Marana übersandten Buches.
In einem Netz von Linien, die sich verknoten
Als ersten Eindruck müßte das Buch vermitteln, was ich empfinde, wenn ich ein Telefon klingeln höre. Ich sage »müßte«, weil ich bezweifle, daß geschriebene Worte auch nur einen Bruchteil davon wiedergeben können: Es genügt keineswegs zu erklären, daß meine Reaktion eine Ablehnung ist, eine
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