Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Unvollständigkeit irgendwie spürt.
Wie ich sehe, kreise ich, so oder so, weiter um den Gedanken einer Interdependenz zwischen ungeschriebener Welt und zu schreibendem Buch. Darum erscheint mir das Schreiben als eine so schwere Last, die mich erdrückt. Ich richte das Fernglas erneut auf die Leserin. Zwischen ihren Augen und der Buchseite flattert ein Schmetterling. Was sie auch lesen mag, sicher nimmt jetzt der Schmetterling ihre Aufmerksamkeit gefangen. Die ungeschriebene Welt erreicht in diesem Schmetterling ihren Gipfel. Das Ergebnis, das ich anstreben muß, ist etwas Präzises, Aufgehobenes, Leichtes.
Beim Betrachten der Frau im Liegestuhl ist mir das Bedürfnis gekommen, »nach der Natur« zu schreiben, das heißt nicht die Frau zu beschreiben, sondern ihr Lesen, beziehungsweise irgend etwas zu schreiben, aber ständig dabei zu denken, daß es durch ihr Lesen hindurch muß.
Jetzt, beim Betrachten des Schmetterlings, der sich dort auf mein Buch setzt, möchte ich »nach der Natur« schreiben, indem ich ständig an den Schmetterling denke. Zum Beispiel ein scheußliches Verbrechen beschreiben, das aber bei aller Scheußlichkeit diesem Schmetterling irgendwie »gleicht«, also leicht und zart ist wie er.
Ich könnte auch den Schmetterling beschreiben und dabei so intensiv an ein scheußliches Verbrechen denken, daß der Schmetterling etwas Entsetzliches wird.
Entwurf für eine Erzählung. Zwei Schriftsteller, wohnhaft in zwei Chalets an gegenüberliegenden Hängen des Tals, beobachten einander durchs Fernglas. Der eine pflegt morgens zu schreiben, der andere nachmittags. Morgens und nachmittags richtet der jeweils nicht schreibende Schriftsteller sein Fernglas auf den jeweils schreibenden.
Einer der beiden ist ein produktiver Schriftsteller, der andere ein zerquälter. Der zerquälte Schriftsteller sieht, wie der produktive Seite um Seite mit regelmäßigen Zeilen füllt, wie sich das Manuskript allmählich zu einem Stapel wohlgeordneter Bögen häuft. Bald wird das neue Buch fertig sein: zweifellos wieder so ein Erfolgsroman - denkt der zerquälte Schriftsteller mit einer gewissen Verachtung, aber nicht ohne Neid. Für ihn ist der produktive Schriftsteller nichts weiter als ein geschickter Handwerker mit der Fähigkeit, wie am Fließband Serienromane zu produzieren, die den Geschmack des Publikums treffen; dennoch kann er ein heftiges Neidgefühl nicht unterdrücken angesichts dieses Mannes, der sich mit so viel methodischer Sicherheit auszudrücken vermag. Und es ist nicht nur Neid, was er empfindet, sondern auch Bewunderung, ja, ehrliche Bewunderung: Zweifellos steckt in der Art, wie dieser Mann seine ganze Energie ins Schreiben legt, auch eine Großherzigkeit, ein Vertrauen in die Kommunikation, in die Möglichkeit, den anderen zu geben, was sie von ihm erwarten, ohne sich introvertierte Probleme zu stellen. Der zerquälte Schriftsteller würde wer weiß was geben, um dem produktiven zu gleichen, ja es ist mittlerweile sein größter Wunsch, so zu werden wie er.
Der produktive Schriftsteller beobachtet den zerquälten, wie dieser sich an den Schreibtisch setzt, an den Nägeln kaut, sich kratzt, ein Blatt zerreißt, wieder aufsteht und in die Küche geht, um sich einen Kaffee zu machen, dann einen schwarzen Tee, dann einen Kamillentee, dann liest er ein Gedicht von Hölderlin (obwohl Hölderlin offenkundig mit dem, was er schreibt, nichts zu tun hat), schreibt eine fertig geschriebene Seite noch einmal ab, um anschließend alles Zeile für Zeile auszuixen, telefoniert mit der Wäscherei (obwohl er weiß, daß die blauen Hosen nicht vor Donnerstag fertig sein können), macht sich ein paar Notizen, die er jetzt nicht verwenden kann, aber vielleicht einmal später, schaut im Lexikon unter dem Stichwort Tasmanien nach (obwohl klar ist, daß Tasmanien in dem, was er schreibt, gar nicht vorkommt), zerreißt zwei Seiten, legt eine Ravel-Platte auf. Der produktive Schriftsteller hat die Werke des zerquälten nie recht gemocht; wenn er sie liest, hat er immer den Eindruck, als werde er gleich den entscheidenden Punkt erfassen, doch jedesmal entgleitet ihm dieser Punkt, und was bleibt, ist ein Gefühl von Unbehagen. Nun aber, da er ihn schreiben sieht, spürt er, daß dieser Mann mit etwas Dunklem ringt, mit einem labyrinthischen Wirrwarr, einem Ausweg, den es zu öffnen gilt, auch wenn man nicht weiß, wohin er führt; manchmal scheint ihm, als balanciere der andere auf einem dünnen Seil über einen
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