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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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ganzen Absatz und den nächsten, ja mehrere Seiten abschreiben, bis zu der Stelle, wo der Held vor die alte Wucherin tritt und sich vorstellt: »Raskolni-kow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen«, murmelte hastig der junge Mann, eingedenk, daß er freundlicher sein mußte.
    Ich höre lieber auf, bevor ich der Versuchung erliege, Schuld und Sühne ganz abzuschreiben. Für einen Augenblick glaube ich zu begreifen, was einst der Sinn und das Faszinosum einer heutzutage unvorstellbaren Berufung gewesen sein muß: der des Kopisten. Der Kopist lebte gleichzeitig in zwei Zeitdimensionen, in der des Lesens und der des Schreibens; er konnte schreiben ohne die Angst vor der Leere, die sich vor der Feder auftut; und er konnte lesen ohne die Angst, daß sein Tun sich nicht in einem greifbaren Gegenstand niederschlägt.
     
    Ein junger Mann ist gekommen, angeblich einer meiner Übersetzer, um mich auf eine ruf- und geschäftsschädigende Hintergehung meiner und seiner Person hinzuweisen: auf die Publikation nichtautorisierter Übersetzungen meiner Bücher. Er zeigte mir ein Exemplar, aus dem ich aber nicht viel ersehen konnte: Es war japanisch gedruckt, und die einzigen Worte in lateinischer Schrift waren mein Name und Vorname auf dem Titelblatt.
    »Ich erkenne nicht einmal, um welches meiner Bücher es sich handelt«, sagte ich und gab ihm den Band zurück. »Leider kann ich kein Japanisch.«
    »Auch wenn Sie es könnten, würden Sie Ihr Buch nicht wiedererkennen«, sagte mein Besucher. »Es ist ein Buch, das Sie nie geschrieben haben.«
    Er erklärte mir, die große Geschicklichkeit der Japaner im Herstellen von perfekten Äquivalenten westlicher Serienprodukte habe sich neuerdings auf die Literatur ausgedehnt. Einer Firma in Osaka sei es gelungen, sich die Formel der Romane von Silas Flannery zu beschaffen; sie könne inzwischen absolut neue Flannerys produzieren, erstklassige, in jeder Hinsicht geeignet, mit ihnen den Weltmarkt zu überschwemmen. Rückübersetzungen ins Englische (beziehungsweise genauer: Erstübersetzungen ins Englische, aus dem sie angeblich übersetzt worden sind) könne kein Kritiker von den echten Flannerys unterscheiden.
    Die Nachricht von diesem teuflischen Schwindel hat mich zutiefst erschüttert. Aber was mich erregt, ist nicht nur die verständliche Wut über die ökonomische und moralische Schädigung: Ich spüre auch einen beklemmenden Reiz von diesen Fälschungen auf mich ausgehen, fühle mich zärtlich hingezogen zu diesem Ableger meiner selbst, der da aufkeimt auf dem Boden einer anderen Zivilisation. Ich sehe vor mir einen alten Japaner im Kimono, der über eine kleine, zierlich geschwungene Brücke geht: Er ist mein japanisches Ich, das sich eine meiner Geschichten ausdenkt und dem es schließlich gelingt, als Ergebnis einer spirituellen Wanderung, die mir ganz äußerlich bleibt, mit mir identisch zu werden.    Dann wären die falschen Flannerys aus der Produktion jener Schwindlerfirma in Osaka zwar billige Imitationen, enthielten jedoch eine seltsam verfeinerte und geheime Weisheit, die den echten Flannerys völlig abgeht.
    Natürlich mußte ich, da ich vor einem Fremden stand, die Zwiespältigkeit meiner Gefühle verbergen und zeigte mich nur daran interessiert, alles Nötige zu erfahren, um einen Prozeß anstrengen zu können.
    »Ich werde die Fälscher verklagen, die Fälscher und jeden, der zur Verbreitung der falschen Bücher beiträgt«, sagte ich und sah dem Übersetzer bedeutungsvoll in die Augen, denn mir war der Verdacht gekommen, daß dieser Bursche womöglich an der Geschichte nicht ganz unbeteiligt sein könnte. Er sagte, sein Name sei Ermes Marana, ich hatte den Namen noch nie gehört. Er hat einen länglichen, zeppelinartig horizontal nach hinten gestreckten Kopf und scheint vieles hinter seiner gewölbten Stirn zu verbergen.
    Ich fragte ihn, wo er wohne. »Zur Zeit in Japan«, antwortete er.
    Er gab sich empört über den Mißbrauch meines Namens und sagte, er sei bereit, mir zu helfen, dem Schwindel ein Ende zu machen, fügte aber hinzu, letzten Endes sei das alles gar nicht so schlimm, denn seiner Ansicht nach beziehe die Literatur ihren Wert aus ihrem Mystifikationsvermögen, jawohl, in der Mystifikation habe sie ihre Wahrheit, und folglich sei eine Fälschung, als Mystifikation einer Mystifikation, soviel wie eine Wahrheit in der zweiten Potenz.
    Er erläuterte mir noch mehr von seinen Theorien, denen zufolge der Autor jedweden Buches eine

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