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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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die Individualität eines Einzelnen.
    Und was ist mit dem Verbum »lesen«? Wird man je sagen können »heute liest es«, so wie man sagt »heute regnet es«? Genau bedacht ist das Lesen ein zwangsläufig individueller Akt, viel mehr als das Schreiben. Angenommen, es gelänge der Schrift als solcher (der ecriture), die Begrenztheit des Autors zu überwinden, so behielte sie gleichwohl nur einen Sinn, wenn sie von einer Einzelperson gelesen wird und deren geistige Strom- oder Regelkreise durchläuft. Nur daß es für ein Individuum lesbar ist, beweist die Teilhabe des Geschriebenen an der Macht des Schreibens-als-Schrift, die sich auf etwas den einzelnen Übergreifendes gründet. Das Universum wird sich so lange ausdrücken können, wie jemand zu sagen vermag: »Ich lese, also schreibt es.«
    Dies ist das besondere Glück, das ich im Gesicht der Leserin aufblühen sehe und das mir versagt ist.
     
    An der Wand über meinem Schreibtisch hängt ein Poster, das mir jemand geschenkt hat. Das Hündchen Snoopy sitzt vor einer Schreibmaschine, und in der Sprechblase liest man den Satz: »Es war eine dunkle und stürmische Nacht. ..« Jedesmal wenn ich hier Platz nehme, lese ich: »Es war eine dunkle und stürmische Nacht. ..«, und die Unpersönlichkeit dieses Incipit scheint mir den Übergang von einer Welt in die andere zu öffnen: von der Zeit und dem Raum des Hier und Jetzt zu der Zeit und dem Raum der geschriebenen Seite. Ich spüre die Erregung eines Beginns, dem unendlich viele Entwicklungen von unerschöpflicher Vielgestalt folgen können; ich gelange zur Überzeugung, daß es nichts Besseres gibt als eine konventionelle Eröffnung, einen Anfang, von dem man alles oder nichts erwarten kann; und gleichzeitig mache ich mir bewußt, daß dieses mythomanische Hündchen niemals imstande sein wird, den ersten sieben Wörtern weitere sieben oder vierzehn hinzuzufügen, ohne den Zauber zu brechen. Die Leichtigkeit des Eintretens in eine andere Welt ist Illusion: Schwungvoll beginnt man zu schreiben, das Glück eines künftigen Lesens antizipierend, und auf dem weißen Papier gähnt die Leere.
    Seit ich dieses Poster vor Augen habe, bringe ich keine einzige Seite mehr zustande. Ich muß diesen verdammten Snoopy schnellstens von der Wand da entfernen. Aber ich kann mich nicht aufraffen: Diese alberne Comicfigur ist für mich zu einem Symbol meiner Lage geworden, zu einer Mahnung und Herausforderung.
    Das epische Faszinosum, das in den Anfangssätzen der ersten Kapitel so vieler Romane im Reinzustand auftritt, verliert sich sehr bald im Fortgang der Erzählung: Es ist die Verheißung einer Zeit der Lektüre, die sich vor uns erstreckt und alle möglichen Weiterentwicklungen in sich aufnehmen kann. Ich wünschte, ich könnte ein Buch schreiben, das nur ein Incipit wäre, ein Buch, das sich über seine ganze Länge hin die Potentialität des Anfangs bewahrt: die noch gegenstandslose Erwartung. Doch wie könnte ein solches Buch aufgebaut sein? Würde es nach dem ersten Absatz abbrechen? Würde es endlos die Präliminarien verlängern? Würde es lauter Anfänge ineinanderschachteln wie Tausendundeine Nacht ?
     
    Heute will ich die ersten Sätze eines berühmten Romans abschreiben, um zu sehen, ob sich das in diesem Anlauf enthaltene Kraftpaket auf meine Hand überträgt, so daß sie, einmal richtig angestoßen, selbständig weiterläuft.
    An einem außergewöhnlich heißen Tage zu Anfang Juli verließ ein junger Mann gegen Abend seine Dachstube, die er in einem Hause der S.-Gasse als Untermieter bewohnte, trat auf die Straße hinaus und ging langsam, wie unentschlossen, in Richtung der K.-Brücke.
    Ich will auch den zweiten Absatz abschreiben, er ist unentbehrlich, um mich vom Fluß der Erzählung mitreißen zu lassen:
    Eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe hatte er glücklich vermeiden können. Sein Stübchen lag unmittelbar unter dem Dach des hohen fünfstöckigen Hauses und glich eher einer Art Schrank als einem Wohnraum. Und so weiter bis: Er war bei der Wirtin stark verschuldet und fürchtete sich, ihr zu begegnen.
    An dieser Stelle übt der nächste Satz eine so starke Anziehung auf mich aus, daß ich mich nicht enthalten kann, ihn ebenfalls abzuschreiben: Nicht daß er besonders furchtsam und feige gewesen wäre, im Gegenteil; aber seit einiger Zeit befand er sich in einem überaus reizbaren Zustand, der fast schon an Hypochondrie grenzte. Da ich nun einmal dabei bin, könnte ich auch gleich weitermachen, den

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