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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Abgrund, und dann überkommt ihn ein Gefühl der Bewunderung. Aber in die Bewunderung mischt sich auch Neid, denn er spürt die Beschränktheit und Oberflächlichkeit seiner eigenen Arbeit im Vergleich zu dem, was der zerquälte Schriftsteller sucht.
    Auf der Terrasse eines Chalets weiter unten im Tal liegt eine junge Frau in der Sonne und liest ein Buch. Die beiden Schriftsteller betrachten sie durch ihre Ferngläser. »Wie versunken sie ist, geradezu atemlos! Wie fieberhaft sie die Seiten umblättert!« denkt der zerquälte Schriftsteller. »Sicher liest sie einen Roman voller starker Effekte, so einen, wie der produktive Schriftsteller sie zu schreiben pflegt!« - »Wie versunken sie ist, geradezu verklärt meditierend, als sähe sie eine geheime Wahrheit sich offenbaren!« denkt der produktive Schriftsteller. »Sicher liest sie ein Buch voller tiefer Bedeutungen, so eins, wie der zerquälte Schriftsteller sie zu schreiben pflegt!«
    Der größte Wunsch des zerquälten Schriftstellers ist nun, so gelesen zu werden, wie diese junge Frau liest. Er macht sich daran, einen Roman in der Weise zu schreiben, wie er meint, daß ihn der produktive Schriftsteller schreiben würde. Unterdessen ist der größte Wunsch des produktiven Schriftstellers ebenfalls, so gelesen zu werden, wie diese junge Frau liest. Er macht sich daran, einen Roman in der Weise zu schreiben, wie er meint, daß ihn der zerquälte Schriftsteller schreiben würde.
    Die junge Frau erhält Besuch erst von dem einen Schriftsteller, dann von dem anderen. Beide kommen, um sie zu bitten, ihren gerade fertiggewordenen neuen Roman zu lesen.
    Die junge Frau nimmt beide Manuskripte entgegen. Nach ein paar Tagen lädt sie die beiden Schriftsteller zu deren Verblüffung gemeinsam ein. »Was soll dieser Scherz?« fragt sie kühl. »Sie haben mir zwei Kopien desselben Romans gegeben!«
    Oder:
    Die junge Frau verwechselt die beiden Manuskripte. Dem Produktiven gibt sie den Roman des Zerquälten in der Manier des Produktiven zurück und dem Zerquälten den Roman des Produktiven in der Manier des Zerquälten. Beide reagieren sehr heftig auf die Entdeckung, daß sie imitiert worden sind, und finden zu ihrer eigenen Linie zurück.
    Oder:
    Ein Windstoß bringt die beiden Manuskripte durcheinander. Die Leserin versucht, sie wieder zu ordnen. Herauskommt ein einziger wunderschöner Roman, den die Kritiker über die Maßen loben, ohne jedoch zu wissen, wem sie ihn zuordnen sollen. Es ist der Roman, den sowohl der produktive wie der zerquälte Schriftsteller immer zu schreiben geträumt hatten.
    Oder:
    Die junge Frau war schon immer eine begeisterte Leserin des produktiven Schriftstellers und verabscheute den zerquälten. Sie liest den neuen Roman des produktiven, findet ihn nichtswürdig und erkennt, daß alles, was er bisher geschrieben hatte, nichtswürdig war; dafür erscheinen ihr nun im Rückblick die Werke des zerquälten Schriftstellers ganz hervorragend, und sie kann es gar nicht erwarten, seinen neuen Roman zu lesen. Sie findet darin jedoch etwas völlig anderes, als sie erwartet hatte, und schickt ihn gleichfalls zum Teufel.
    Oder:
    Wie oben, mit Ersetzung von »produktiv« durch »zerquält« und »zerquält« durch »produktiv«.
    Oder:
    Die junge Frau war usw. usw. vom Produktiven begeistert und verabscheute den Zerquälten. Sie liest den neuen Roman des Produktiven und merkt gar nicht, daß sich etwas verändert hat; er gefällt ihr, ohne sie zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Das Manuskript des Zerquälten findet sie langweilig wie alles, was sie bisher von ihm gelesen hat. Sie antwortet beiden Schriftstellern mit ein paar Allerweltsphrasen. Beide gelangen zu der Überzeugung, daß diese Frau wohl keine sehr aufmerksame Leserin ist, und reden nicht mehr von der Sache.
    Oder:
    Wie oben, mit Ersetzung von usw.
     
    Habe in einem Buch gelesen, daß die Objektivität des Denkens sich ausdrücken ließe, indem man das Verbum »denken« in der unpersönlichen dritten Person gebraucht, also nicht sagt »ich denke«, sondern »es denkt«, so wie man sagt »es regnet«. Es gibt ein Denken im Universum - das ist der Grundsatz, von dem wir ausgehen müssen.
    Werde ich jemals sagen können »heute schreibt es«, so wie ich sagen kann »heute regnet es«, »heute ist es windig«? Erst wenn es mir ganz natürlich erscheint, das Verbum »schreiben« in der unpersönlichen Form zu gebrauchen, kann ich hoffen, daß durch mich etwas minder Begrenztes zum Ausdruck kommt als

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