Wenn ein Reisender in einer Winternacht
umgewandelt zu Phantasiegebilden in ihrem Innern, zu dem, was in ihr das Allerpersönlichste ist, das am wenigsten Kommunizierbare.
Manchmal packt mich ein absurdes Verlangen: Der Satz, den ich gerade schreibe, müßte derselbe sein, den sie gerade liest. Der Gedanke ist so faszinierend, daß ich mir einrede, er sei wahr: Ich schreibe den Satz rasch nieder, springe auf, eile ans Fenster und schaue durchs Fernglas, um die Wirkung meines Satzes in ihrem Blick zu prüfen, in der Art, wie sie die Lippen verzieht, sich eine Zigarette anzündet, sich im Liegestuhl räkelt, die Beine übereinanderschlägt oder ausstreckt.
Manchmal scheint mir, daß der Abstand zwischen meinem Schreiben und ihrem Lesen unüberbrückbar ist, daß alles, was ich schreibe, den Stempel der Künstlichkeit, der Vortäuschung und der Verworrenheit trägt: Erschiene das, was ich hier schreibe, auf der glatten Oberfläche der Seite, die sie dort liest, es würde kreischen wie ein Fingernagel auf einer Glasscheibe, und sie würde das Buch voller Schaudern wegwerfen.
Manchmal rede ich mir auch ein, daß die Frau dort unten mein wahres Buch liest, das Buch, das ich seit langem schreiben müßte, aber nie werde schreiben können, daß dieses Buch da ist, Wort für Wort, ich sehe es vor mir im Fernglas, kann aber nicht lesen, was darin geschrieben steht, kann nicht wissen, was jenes Ich geschrieben hat, das zu werden mir niemals gelungen ist noch jemals gelingen wird. Es hat keinen Zweck, an den Schreibtisch zurückzugehen und mich zu bemühen, es zu erraten, es zu kopieren, dieses mein wahres Buch, das sie dort liest: Was ich auch schreiben mag, immer wird es eine Verfälschung sein, gemessen an meinem wahren Buch, das niemand außer ihr jemals lesen wird.
Und was, wenn nun sie, wie ich ihr zusehe, während sie liest, ein Fernglas auf mich richten würde, während ich schreibe? Ich sitze an der Maschine mit dem Rücken zum Fenster und spüre plötzlich hinter mir einen Blick, der den Fluß meiner Sätze aufsaugt, mein Erzählen in Richtungen lenkt, die mir entgleiten. Die Leser sind meine Vampire. Ich spüre ein Heer von Lesern, die mir über die Schultern blicken und meine Worte an sich reißen, kaum daß sie auf dem Papier stehen. Ich bin unfähig zu schreiben, wenn mir jemand zusieht: Ich spüre, daß mir, was ich da schreibe, nicht mehr gehört. Ich möchte verschwinden, möchte der lauernden Erwartung in ihren Blicken nur das in die Maschine gespannte Blatt überlassen, allenfalls noch meine auf die Tasten schlagenden Finger.
Wie gut ich schreiben würde, wenn ich nicht wäre! Wenn zwischen dem weißen Blatt und dem Brodeln der Wörter, Sätze, Geschichten, die da Gestalt annehmen und wieder entschwinden, ohne daß jemand sie schreibt, nicht diese hemmende Trennwand meiner Person wäre! Stil, Geschmack, persönliche Philosophie, Subjektivität, Bildung, gelebte Erfahrung, Psychologie, Talent, handwerkliche Kunstgriffe: alles, was irgendwie dazu beiträgt, daß als mein erkennbar wird, was ich schreibe, kommt mir wie ein Käfig vor, der meine Möglichkeiten einengt. Wäre ich nur eine Hand, eine abgehauene Hand, die eine Feder hielte und schriebe. Aber wer würde die Hand bewegen? Die anonyme Masse? Der Zeitgeist? Das kollektive Unbewußte? Ich weiß nicht. Nein, nicht um Sprachrohr für etwas Undefinierbares werden zu können, würde ich mich so gern annullieren. Nur um Mittler zu werden für das Schreibbare, das darauf wartet, geschrieben zu werden, für das Erzählbare, das noch niemand erzählt hat.
Vielleicht weiß die Frau dort unten im Liegestuhl, was ich schreiben müßte; oder sie weiß es nicht, da sie von mir gerade erwartet, daß ich schreibe, was sie nicht weiß? In jedem Falle weiß sie, was sie erwartet, welche Leere meine Worte füllen müßten.
Manchmal denke ich an den Stoff des zu schreibenden Buches wie an etwas längst schon Vorhandenes: längst schon gedachte Gedanken, längst schon gesprochene Dialoge, längst schon geschehene Geschichten, längst schon gesehene Orte und Szenerien. Das Buch als Äquivalent der ungeschriebenen Welt, übersetzt in Schrift. Dann wieder scheint mir, daß zwischen dem zu schreibenden Buch und den schon vorhandenen Dingen nur eine Art Komplementarität sein kann. Das Buch als geschriebenes Gegenstück der ungeschriebenen Welt, sein Stoff als das, was nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann, solange es nicht geschrieben wird, dessen Fehlen jedoch das Vorhandene in seiner
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