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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Offenbarung einer kosmischen Wahrheit erscheinen mag. Im Augenblick weiß ich zwar nicht, was ich da erfinden soll, aber wenn ich erstmal am Schreiben bin, wird mir schon etwas einfallen.
    Und wenn es so wäre, wie sie behaupten? Wenn mir das, was ich frei zu erfinden glaube, in Wahrheit von den Außerirdischen diktiert würde?
     
    Ich warte vergeblich auf eine Offenbarung aus dem All: Mein Roman kommt nicht voran. Wenn ich jetzt plötzlich in Fahrt käme und wieder Seiten um Seiten vollschreiben würde, wäre das ein Zeichen dafür, daß mir die Galaxie ihre Botschaften sendet.
    Aber das einzige, was ich zu schreiben vermag, ist dieses Tagebuch, die Betrachtung einer jungen Frau beim Lesen eines Buches, von dem ich nicht weiß, was für ein Buch es ist. Ob die außerirdische Botschaft in meinem Tagebuch steckt? Oder im Buch jener Leserin?
    Habe Besuch bekommen von einer jungen Dame, die eine Dissertation über meine Romane schreibt für ein sehr bedeutendes literaturwissenschaftliches Seminar. Wie ich sehe, kommt ihr mein Werk zur Demonstration ihrer Theorien äußerst gelegen, und das ist gewiß etwas Positives, ob für die Romane oder die Theorien. Aus ihren sehr detaillierten Darlegungen gewann ich den Eindruck einer seriös betriebenen Arbeit; doch meine Bücher kann ich, durch ihre Brille gesehen, nicht wiedererkennen. Ich will nicht bezweifeln, daß diese Lotaria (so heißt sie) meine Bücher gewissenhaft gelesen hat, aber ich glaube, sie hat es nur getan, um darin zu finden, was sie schon vorher zu wissen glaubte.
    Ich versuchte, ihr das zu sagen. Sie erwiderte leicht pikiert: »Wieso? Wollen Sie, daß ich in Ihren Büchern nur lese, was Sie zu wissen glauben?«
    »So war das nicht gemeint«, erklärte ich ihr. »Von den Lesern erwarte ich, daß sie in meinen Büchern etwas lesen, was ich nicht wußte, aber das kann ich nur von denen erwarten, die etwas lesen wollen, was sie noch nicht wissen.«
    (Zum Glück kann ich durchs Fernglas jene andere lesende Frau betrachten und mich davon überzeugen, daß nicht alle Leser so sind wie diese Lotaria.)
    »Was Sie wollen, wäre eine passive, eskapistische, regressive Art zu lesen«, meinte Lotaria. »So liest meine Schwester. Und genau als ich sah, wie sie die Romane von Silas Flannery einen nach dem anderen verschlang, ohne sich das geringste Problem zu stellen, kam ich auf den Gedanken, diese zum Thema meiner Dissertation zu machen. Deswegen, wenn Sie's wissen wollen, habe ich Ihre Romane gelesen, Herr Flannery: um meiner Schwester Ludmilla zu zeigen, wie man einen Autor liest. Selbst einen Silas Flannery.«
    »Danke für das >selbst<. Aber warum sind Sie dann nicht mit Ihrer Schwester gekommen?«
    »Ludmilla ist der Ansicht, man sollte Autoren lieber nicht persönlich kennenlernen, denn der wirkliche Mensch entspreche niemals dem Bild, das man sich von ihm macht, wenn man seine Bücher liest.«
    Mir scheint, diese Ludmilla könnte meine ideale Leserin sein.
     
    Als ich gestern abend mein Arbeitszimmer betrat, sah ich den Schatten eines Unbekannten durchs Fenster entfliehen. Ich wollte ihm nachlaufen, doch er war spurlos verschwunden. Oft ist mir, als seien Leute hier in den Büschen rings um das Haus versteckt, besonders nachts.
    Obwohl ich das Haus so selten wie möglich verlasse, habe ich irgendwie das Gefühl, als mache sich jemand an meinen Papieren zu schaffen. Schon mehr als einmal mußte ich feststellen, daß Seiten von meinen Manuskripten verschwunden waren. Nach ein paar Tagen fand ich sie wieder an ihrem Platz. Doch es passiert mir häufig, daß ich meine Manuskripte nicht wiedererkenne, als hätte ich vergessen, was ich geschrieben habe, oder als hätte ich mich über Nacht so verändert, daß ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne in meinem gestrigen Ich.
     
    Habe Lotaria gefragt, ob sie von meinen Büchern, die ich ihr geliehen habe, schon das eine oder andere gelesen hat. Sie sagte nein, denn hier stehe ihr keine EDV-Anlage zur Verfügung.
    Eine entsprechend programmierte Elektronische Datenverarbeitungsanlage, erklärte sie mir, sei nämlich imstande, einen Roman in wenigen Minuten zu lesen und dabei sämtliche im Text vorkommenden Wörter gestaffelt nach ihrer Häufigkeit aufzulisten. »Damit verfüge ich gleich über eine abgeschlossene Lektüre«, sagte Lotaria, »die mir enorm viel Zeit erspart. Denn was ist die Lektüre eines Textes anderes als die Registration bestimmter thematischer Leitmotive, bestimmter formaler und signifikanter

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