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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Doch sie war nicht allein: Am Ende des Flurs, in einer zweiten Tür, stand reglos die Gestalt eines Mannes. Ich weiß nicht, wie lange Herr Okeda schon dort gestanden hatte. Er betrachtete starren Blickes nicht seine Frau oder mich, sondern seine uns betrachtende Tochter. In seinen kalten Augen und in der harten Falte seiner zusammengekniffenen Lippen spiegelte sich Frau Miyagis Zucken, wie es im Blick ihrer Tochter gespiegelt wurde.
    Er sah, daß ich ihn sah. Er rührte sich nicht. In diesem Moment begriff ich, daß er mich nicht unterbrechen noch aus dem Hause jagen, auch niemals auf diesen Vorfall anspielen würde noch auf andere, die sich künftig ereignen und wiederereignen könnten; auch begriff ich, daß mir diese seine stillschweigende Duldung keinerlei Macht über ihn verleihen noch meine Unterwerfung unter ihn lindern würde. Sie war ein Geheimnis, das mich an ihn band, nicht aber ihn an mich: Niemandem würde ich je enthüllen können, was er da schweigend betrachtete, ohne damit eine skandalöse Komplizenschaft meinerseits einzugestehen.
    Was konnte ich jetzt noch tun? Es war mein Schicksal, mich immer tiefer in ein Knäuel von Mißverständnissen zu verstricken, denn nun betrachtete mich Makiko als einen der zahlreichen Liebhaber ihrer Mutter, und Frau Miyagi wußte, daß ich nur Augen für ihre Tochter hatte, und beide würden mich teuer dafür bezahlen lassen, und das Gerede in akademischen Kreisen, das ohnehin so rasch um sich greift und noch beschleunigt wird durch die Niedertracht meiner Kommilitonen mit ihrer steten Bereitschaft, den Plänen des Meisters entgegenzukommen, würde auf mein Verbleiben im Hause Okeda ein trübes Licht werfen und mich diskreditieren, auch und gerade in den Augen jener Dozenten, auf die ich am meisten baute, um meine Situation zu ändern.
    So sehr mich das alles mit Sorge erfüllte, gelang es mir doch, mich zu konzentrieren und die generelle Empfindung meines von Frau Miyagis Geschlecht umspannten Geschlechts zu unterteilen in die partiellen Empfindungen der verschiedenen Einzelpunkte an mir und an ihr, die durch meine Gleit- und ihre Kontraktionsbewegungen abwechselnd unter Druck gesetzt wurden. Diese Applikation verhalf mir insbesondere zu einer Prolongation des für die Observation als solche notwendigen Zustandes, indem sie die Endkrisenzuspitzung retardierte durch Verdeutlichung von Momenten totaler oder partieller Gefühllosigkeit, Momenten, die ihrerseits wiederum nur das jähe Aufflammen lustvoller Reize, das sich unvorauskalkulierbar in Raum und Zeit verteilte, über die Maßen akzentuierten. »Makiko! Makiko!!« stöhnte ich Frau Miyagi ins Ohr, während ich konvulsivisch diese Momente höchster, ja übermäßiger Sensibilität mit dem Bild ihrer Tochter assoziierte und mit der Skala jener - wie ich mir vorstellte - unvergleichlich viel stärkeren Sinnesreize, die sie in mir würde erregen können. Und um meine Reaktionen unter Kontrolle zu halten, dachte ich dabei an die Beschreibung, die ich am selben Abend Herrn Okeda von ihnen geben würde: Kennzeichnend für den Regen der fallenden Ginkgoblätter ist die Tatsache, daß sich jedes Blatt in jedem Moment seines Fallens auf einer anderen Höhe als die anderen befindet, weshalb der leere und leblose Raum, der Hintergrund, vor welchem die visuellen Sinneseindrücke sich abheben, unterteilt werden kann in eine Folge von Ebenen, auf denen jeweils nur immer ein einziges Blättchen tanzt.

IX
    Du schnallst dich an. Die Maschine beginnt den Landeanflug. Fliegen ist das Gegenteil von Reisen: Du durchquerst einen Sprung im Raumkontinuum, eine Art Loch im Raum, verschwindest im Leeren, bist eine Weile, die gleichfalls eine Art Loch in der Zeit ist, an keinem Ort, nirgends; dann tauchst du wieder auf und befindest dich in einem Dort und Dann ohne jeden Zusammenhang mit dem Wo und Wann, aus dem du verschwunden bist. Was tust du inzwischen? Wie füllst du diese deine Abwesenheit von der Welt und der Welt von dir? Du liest; vom Start bis zur Landung hebst du den Blick nicht vom Buch, denn jenseits der Seite ist nur die Leere, die Anonymität der Flughäfen, des metallischen Uterus, der dich umhüllt und nährt, des immer wechselnden und immer gleichen Pulks von Mitpassagieren. Da kannst du dich ebensogut an diese andere Abstraktion des Reisens halten, die von der anonymen Gleichförmigkeit der Druckbuchstaben erzeugt wird: Auch hier ist es nur die evokative Macht der Namen, die dir einredet, daß du etwas überfliegst und

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