Wenn Eltern es zu gut meinen
noch mehr auf Gegenseitigkeit bedacht, noch nachgiebiger und kindorientierter als der Helikopter-Stil. Er ist der vollständige Ausdruck der Vorstellung, dass Kinder Blumen sind: Wenn man Kindern nur die richtige Nahrung, uneingeschränkte Zuwendung und viel Freiheit gewährt und ihren inneren Genius fördert, werden sie gedeihen.
Die extremste Variante der Rollentausch-Erziehung ist die New-Age-Theorie von den sogenannten Indigo-Kindern, die in dem populären Buch Die Indigo Kinder von Lee Carroll und Jan Tober dargestellt wird. 10 Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen, denen zufolge in den letzten Jahrzehnten eine neue Art Kinder zur Welt gekommen ist. Diese Kinder verfügen nicht nur über eine außergewöhnliche Intelligenz und andere
kreative Gaben; sie haben auch eine übernatürliche Intuition und Einsicht. Wenn sie oft aufsässig und schwierig im Umgang sind, dann nur, weil sie weiter als die anderen sind, auch als ihre Eltern und andere Erzieher. Sie sind spirituell begabt und imstande, die Emotionen anderer intuitiv zu erspüren. Sie haben nur die altruistischsten Dinge im Sinn, werden aber aufgehalten von ganz gewöhnlichen Regeln und der Unfähigkeit der Erwachsenen in ihrer Umgebung, zu begreifen, was in ihnen steckt. Eltern und Lehrer, die diese Theorie vertreten, glauben, Indigo-Kinder sollten die Erwachsenen führen, nicht umgekehrt. Die »Indigo-Evolution«, wie diese Bewegung genannt wird, ist die Rollenumkehrung jener Eltern-Kind-Beziehung, die vorherrschte, als die Babyboomer Kinder waren. 11 Während diese den emotionalen Bedürfnissen ihrer Eltern zu dienen hatten, müssen die Eltern von Indigos ihren Kindern dienen und deren zahlreiche emotionale Bedürfnisse nach Anregung, Chancen und Macht befriedigen.
Andere Beispiele der Rollentausch-Erziehung sind weniger extrem, folgen aber auch dem Leitgedanken, dass Kinder die Führungsrolle haben sollten. In einem Gespräch über die Auswirkungen dieser Erziehung auf eine Schule in einer Kleinstadt von Vermont sprach ich mit Dr. Andy Pomerantz, mittlerweile Chefpsychia ter in einem Veteranenhospital. Bevor er sich zum Psychiater fortbildete, war Andy praktischer Arzt und Hausarzt in seiner Gemeinde Chelsea. Sein ergrauender Bart, sein schlanker Körperbau und seine freundlichen Manieren sind typisch für einen Babyboomer mittleren Alters, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, anderen zu helfen und ein aktives Mitglied seines Gemeinwesens zu sein.
Vor etwa zehn Jahren brachte die Rollentausch-Erziehung grundlegende Veränderungen in die K-12-Schule von Chelsea, die alle drei Kinder von Andy Pomerantz besuchten. Sie wurde in eine total kindzentrierte Schule umgestaltet, ein Umfeld, in dem die Einmischung Erwachsener verpönt war. »Es gab dafür ein von der Schulleitung benutztes Wort«, erinnert sich Andy. »Es lautete ›Adultismus‹. Adultismus 2 war in der Schule verboten. Junge Menschen sollten nicht in der Freiheit beschränkt werden, ihre Kreativität zu erforschen und zu entwickeln. Das war das Ideal, dem sich die Schule verschrieben hatte, denn man glaubte, das sei zum Gedeihen der Kreativität notwendig. Unter anderem kamen die Kinder so gekleidet zur Schule, wie es ihnen einfiel, bei warmem Wetter halbnackt. Es gab niemanden, der Einhalt gebot, wenn jemand die Grenzen überschritt, falls es überhaupt Grenzen gab. In der Turnhalle kam es zu einer Festnahme, weil eine Schülerin behauptete, von einem Mitschüler vergewaltigt worden zu sein. Es stellte sich heraus, dass die Kinder während der Schulzeit in der Turnhalle sexuelle Abenteuer haben konnten.«
Diese staatliche Schule, die von vielen Rollentausch-Eltern finanziert wurde, war von der Prägung her idealistisch, nichtmaterialistisch und nicht übermäßig erfolgsorientiert. Niemand versuchte, die Schulabgänger mit aller Macht in den elitärsten Colleges unterzubrin gen. Ihr Ziel bestand vielmehr darin, die Kreativität und Spontaneität der Kinder zu fördern und ihnen zu erlauben, »sie selbst zu werden«. Doch auch mit den idealistischsten Zielen produziert dieser Erziehungsstil
die gleichen Probleme wie der Laissez-faire-Stil: eine Fehleinschätzung dessen, was uns in der Welt erwartet.
Der nächste Schritt
Den Erziehungsstilen der geburtenstarken Jahrgänge und der Generation danach liegt der Fehler zugrunde, Erwachsenen und Kindern Gleichheit und Gleichberechtigung einzuräumen, wobei sie manchmal sogar so weit gehen, den Kindern die Führungsrolle zuzusprechen. Die
Weitere Kostenlose Bücher