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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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beispielsweise Dinge sagen wie: »Mit 40 gehe ich in Rente, denn ich werde nicht nur Friseur; ich mache eine eigene Ladenkette auf und bin irgendwann Millionär.« Paradoxerweise haben also einige Menschen, die mit ungerechten Angriffen auf ihre Identität aufgewachsen sind, dieselbe Art von besonderem Selbst wie jemand, der in der Kindheit verhätschelt wurde.
    Enthält unsere ursprüngliche Identität starke Ver zerrungen (entweder positiver oder negativer Art), nehmen wir uns selbst durch eine verzerrte Brille wahr. 21 Der Blick vom Balkon ist blockiert oder ver nebelt, ohne dass wir wissen, warum. Vielleicht halten
wir unsere Begabungen für größer, als sie tatsächlich sind, wie es bei Andrew und seiner Malerei der Fall war, und fühlen uns dann tief beschämt, wenn wir feststellen, dass wir weniger außergewöhnlich sind, als wir dachten. Wir können den Trugschluss unserer Minderwertigkeit auch durch andere Überzeugungen kompensieren. Hatten unsere Eltern Angst, als Autoritäten aufzutreten, glauben wir vielleicht voreilig an den Wert unserer Urteile und übertreten womöglich Grenzen von Menschen, die erfahrener sind - nur um uns beschämt und unterlegen zu fühlen, wenn wir dafür Kritik ernten.
    Professor Gigi Marks vom Ithaca College ist der Ansicht, dass viele junge Menschen sich für ihr Aussehen und ihren Körper schämen, was zu sexuellem Ausagieren führt. Sie sagt: »Der Körper und die Pornografie werden verherrlicht, sodass einerseits jeder im Internet dazu Zugang hat und andererseits der Zugang völlig fehlt. Es handelt sich um Fantasien. Der Druck und Anspruch, jung und schlank auszusehen, ist so stark, dass junge Menschen kein realistisches Bild mehr von ihrem Körper haben.« Wenn sie an ihr eigenes Perfektionsstreben zurückdenkt, sagt Gigi Marks: »Vor zehn Jahren ging ich die Beziehung zu meinem Partner ein, der sehr sportlich ist. Wir machten gemeinsam Skilanglauf, aber ich war nur eine mittelmäßige Läuferin. Ich machte damals eine Therapie, und als ich dieses Thema anschnitt, sagte mir mein Therapeut direkt: ›Es ist völlig in Ordnung, dass Sie nur mittelmäßig sind. Dafür sind Sie auf anderen Gebieten gut.‹ Dieser Satz war die eindeutige und umfassende Erlaubnis, normal zu sein. Er war befreiend.« Die Erlaubnis, normal zu sein, Misserfolge zu haben und Fehler zu machen und
nicht alles im Voraus wissen zu müssen, fehlt vielen jungen Erwachsenen heutzutage.
    Das beste Heilmittel für ein besonderes Ich ist Gelassenheit angesichts von Lob, Erfolg oder Macht. Für diesen nüchternen Blick vom Balkon brauchen wir eine sanfte, objektive Wahrnehmung, wenn wir uns selbst betrachten. Ganz gleich, in welcher Lebensphase wir sind, wir können unsere Gelassenheit verbessern, indem wir uns fundamental als Mensch betrachten und lernen, optimal mit den Beziehungen umzugehen, auf die wir angewiesen sind.

Das Normalsein üben
    Unsere Erfahrung des menschlichen Ichs ist in konstantem Fluss. In jedem Augenblick werden wir von anderen Menschen, der Umwelt und inneren Faktoren tief beeinflusst. Wenn wir glauben, uns von anderen zu unterscheiden (entweder in Form von Überlegenheit oder Minderwertigkeit), und meinen, uns gegen ihren Einfluss schützen zu müssen, können wir keine Autonomie oder emotionale Intelligenz entwickeln. Wir treffen die falschen Entscheidungen oder fühlen uns gar nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Es spielt keine Rolle, ob wir positiv oder negativ von uns denken: Von unserem Ichgefühl abgelenkt, können wir unserer Umgebung keine genaue Aufmerksamkeit schenken; wir können Signale anderer nicht gut deuten und nicht wirklich effektiv in Führungsrollen oder als Gruppenmitglieder fungieren. 22
    Was ist in einem solchen Fall zu tun? Für einige Menschen wie Andrew ist eine Psychotherapie die
Chance, um anzufangen, ihre Selbstfixiertheit und rastlose Unzufriedenheit abzulegen. Doch ganz gleich, ob Sie eine Psychotherapie machen oder nicht, wenn Sie die sechs einfachen Regeln beherzigen, die ich im Folgenden darstelle, können Sie - und Ihre Kinder - emotionale Intelligenz, Autonomie und Mitgefühl für sich und andere auf eine Art entwickeln, bei der unser gemeinsames Menschsein und unsere Normalität im Mittelpunkt stehen.
    Diese Regeln waren früher Bestandteil der Kinder erziehung und des Familienlebens in unserer Ge sellschaft, sie sind in unserer heutigen Epoche der Besonderheit jedoch weggefallen. Kinder und Erwachsene können sie gleichermaßen lernen

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