Wenn Eltern es zu gut meinen
ande rem zu, nur um seine zwanghafte Beschäftigung mit der Malerei wieder aufzunehmen, sobald die ›Unvollkommenheit‹ der neuen Arbeit unerträglich wurde.« 12 Statt sich an seinen Begabungen zu freuen und an seinen Stärken und Schwächen zu arbeiten, um eine Sache zu beherrschen, gab Andrew alle Hoffnung auf, je der Maler zu sein, der er meinte, sein zu müssen. Durch seine Therapie reagierte Andrew flexibler auf die Perfektionsansprüche, die von seinen übertriebenen Idealen stammten. Er holte sein besonderes Selbst aus dem Rampenlicht und verbannte es in die Kulissen.
Im Alter von etwa 18 Monaten kündigt sich mit dem Auftreten der sogenannten »komplexen Emotionen« - jener Emotionen, durch die wir uns mit anderen vergleichen und von ihnen getrennt fühlen - die Geburt unseres Ichs an (der Funktion, die uns erlaubt, unser Leben eigenständig zu lenken und eine kontinuierliche Identität in der Zeit aufrechtzuerhalten). 13 Sie wissen vielleicht nicht viel über die wissenschaftliche Einteilung Ihrer Emotionen, doch zweifellos wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn Sie von Emotionen überwältigt und von Bildern und körperlichen Empfindungen überflutet werden, die Sie aus der Bahn werfen und zum Handeln, zu einer Reaktion, motivieren.
Aus der Neurowissenschaft und der psychologischen Emotionsforschung ist bekannt, dass der menschliche Säugling anfangs mit »Primäremotionen« ausgestattet ist, die von Wissenschaftlern in fünf oder sieben Arten unterteilt werden. Ich ziehe die schlichte Fünfer-Einteilung vor: Freude, Neugier, Traurigkeit, Abscheu (oder Ekel) und Angst. 14
Wenn Klienten in einer Therapie ihre Gefühle nicht benennen können, gehen sie oft die populärpsychologische Liste von »wütend, traurig, froh, ängstlich oder angeekelt« durch, ohne ihre Erfahrung einer dieser Emotionen zuordnen zu können. Sie würden gut daran tun, bei den komplexen Emotionen zu schauen. Viele Menschen wissen nicht, dass diese komplexen Emotionen oder »Ichgefühle« unsere Identität und Autonomie stark beeinflussen.
Wenn Sie daran denken, wie Sie sich bei der Vorstellung fühlen, sich mit anderen zu vergleichen, werden Ihnen vermutlich fast alle komplexen Emotionen einfallen: Verlegenheit, Schuldgefühle, Stolz, Scham, Eifersucht, Neid und Selbstmitleid sind die wichtigsten. 15 Der berüchtigte präfrontale Kortex, die Ausbuchtung des menschlichen Gehirns, die in etwa direkt hinter der Stirn liegt, stattet uns mit Motivationen und Empfindungen aus, die ein Tier nicht hat. Auch wenn Tiere sich auf irgendeine Art ihrer selbst bewusst sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie ein komplexes, abstraktes und anhaltendes Bewusstsein ihrer selbst haben. Wir Menschen vergleichen uns miteinander, sowohl in der Vorstellung als auch in der unmittelbaren Gegenwart anderer. Elefanten und Ameisen tun das nicht. Natürlich werden wir auch von den Primäremotionen motiviert, die wir mit den meisten Tieren teilen.
Im Ichgefühl steckenzubleiben birgt für uns jedoch die Gefahr, ein besonderes Selbst und weitere Identitätsprobleme zu entwickeln, die uns aus der Bahn werfen. Um die innere Stimme zu verfeinern, die uns leiten kann, müssen wir eine sanfte, achtsame Selbstakzeptanz ausbilden (versuchen, unser Ichgefühl zu überwinden), die uns erlaubt, eine realistische Sicht von uns und denen zu bekommen, die uns helfen oder mit uns konkurrieren.
Die komplexen Emotionen stören dieses seelische Gleichgewicht. Sie richten unsere Aufmerksamkeit vordringlich auf das Ich und weg von dem, was sonst noch geschieht - und natürlich geschieht immer etwas. Unsere komplexen Emotionen erfüllen uns mit Sorge um uns selbst. Was wir in einem beliebigen Augenblick in Bezug auf uns selbst fühlen - Stolz, Schuld oder Scham -, steht im Mittelpunkt und blockiert andere Erfahrungen und Wahrnehmungen.
Die Geburt des Ichgefühls kündigt die Trotzphase oder den Selbstbehauptungswillen des Kleinkindes an, durch den das menschliche Kleinkind sich schmerzlich des Gedankens bewusst wird: »Ich stecke in diesem Körper. Ich will dies, und jenes will ich nicht.« 16 Das Kleinkind legt plötzlich einen Willen, eine Getrenntheit, ein In-seinem-Körper-Sein an den Tag, die es vorher nicht kannte. Ichgefühl ist notwendig für die menschliche Entwicklung aufgrund der Komplexität des menschlichen Gehirns und seiner Interaktionen. Die komplexen Emotionen erlauben uns mit der Zeit, einen Blick vom Balkon zu tun, unsere Identität, unser Handeln und
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