Wenn Eltern es zu gut meinen
unsere Sprache zu betrachten. Im Gehirn des Erwachsenen laufen Augenblick für Augenblick verschiedenste Wahrnehmungen und Reaktionen ab.
Die komplexen Emotionen lösen ein Gewahrsein unserer selbst aus, das uns hilft, die Frage zu beantworten: »Was geht hier vor?« Diese Ichfunktion erlaubt uns, Entscheidungen zu treffen, Vorlieben zu entdecken und nicht zuletzt zurück in die Vergangenheit und nach vorn in die Zukunft zu schauen. Diese Fähigkeiten sind notwendig, um reife und autonome Entscheidungen zu fällen.
Das allererste Kennzeichen auf dem Weg zur Autonomie ist die Fähigkeit des Kleinkindes, seine Impulse und Handlungen zu steuern. Das Ichgefühl hilft dabei. »Oh, ich kann das. Ich kann aufhören, meinen Bruder zu hauen.« Wenn kleine Kinder ihre Impulse sicher steuern können, sind sie imstande, bereitwilliger mit anderen in Beziehung zu treten und sich in ihrer Um gebung unabhängiger zu bewegen. Zivilisiertes Benehmen setzt ungefähr im Alter von sechs oder sieben Jahren ein.
Dann taucht der nächste Meilenstein in der Entwicklung auf. Die Beherrschung des menschlichen Empfindens von Zeit, Raum und Kausalität lässt eine ganz neue Dimension des Ichgefühls entstehen. Eine persönliche Geschichte mit Vergangenheit und Zukunft beginnt sich herauszukristallisieren, zusammen mit eindeutigen Vorlieben. 17 »Ich weiß, dass ich gern Schokoladeneis esse, und wenn wir das nächste Mal ins Eiscafé gehen, wünsche ich mir Schokoladeneis.« Von da an können Kinder Regeln für die Entwicklung guter Charaktereigenschaften selbständig befolgen, denn sie kennen Scham, Schuld und Gewissensbisse und können auch die Folgen ihrer Handlungen erkennen. Natürlich brauchen Kinder lange, um richtig zu verstehen, wie ihre Absichten und Handlungen mit den
Wirkungen zusammenhängen, die ihr Verhalten auf andere hat.
Ungefähr im Alter von elf oder zwölf Jahren erleben Kinder die endgültige Revolution des Ichgefühls: die Geburt des Über-Ichs und den Beginn der selbstreflektierenden Wahrnehmung. 18 Dieser Entwicklungsschritt beruht auf bestimmten kortikalen Verbindungen und anderen neuronalen Ereignissen, die mit der Pubertät einsetzen und erst im frühen Erwachsenenalter zum Abschluss kommen. Wenn diese Fähigkeiten ausgereift sind, haben junge Erwachsene das Potenzial, wenn auch nicht die Garantie des Einfühlungsvermögens: der Fähigkeit, in die Haut anderer zu schlüpfen, um daraus zu schließen, wie diese sich vielleicht fühlen. Die volle Entfaltung der Empathie hängt, wie ich schon mehrfach betont habe, von vielen Beziehungsfähigkeiten ab, die insbesondere durch Kooperation und die Zugehörigkeit zu einer Familie oder Gruppe erworben werden, in der man sowohl mehr als auch weniger als andere Mitglieder weiß. 19
Alle guten Eltern idealisieren ihre Kinder, zumindest in der frühen Kindheit und oft bis in die Pubertät hinein. Wir können nicht umhin, mit elterlichem Stolz auf das Können, die Schönheit und die einzigartigen Begabungen unserer Kinder zu blicken, die sie der Welt bringen. Doch wenn Eltern oder andere Erwachsene beharrlich andeuten oder aussprechen, dass ein Kind außergewöhnlich, besonders oder ein Prachtkind ist, auf eine Weise, die es von anderen abhebt, läuft das Kind Gefahr, die Symptome der Selbstwertfalle zu entwickeln.
Nicht nur durch übertriebenes Lob wird die Saat eines besonderen Selbst gesät, noch ein weiterer Weg
führt zur Selbstaufblähung: das Kompensieren von Minderwertigkeit. 20 Wenn ein Kind annimmt oder von Eltern, älteren Geschwistern oder andern Erwachsenen jahrelang zu hören bekommt, dass es minderwertig (dumm, mittelmäßig, hässlich) sei, identifiziert es sich beim Eintritt in die Pubertät entweder mit dieser Botschaft oder lehnt sich dagegen auf. Identifiziert sich das Kind mit der Minderwertigkeit, empfindet es häufig Scham und Neid und glaubt, dass es nicht über die inneren Reichtümer verfügt, die andere haben. Psychotherapie oder andere Arten von Hilfe können diese Überzeugung beim Erwachsenen korrigieren und ihm erlauben, dieses »internalisierte Minderwertigkeitsgefühl« zu bekämpfen und eine realistische Wahrnehmung seiner eigenen Stärken und Schwächen zu entwickeln. Lehnt sich ein Heranwachsender oder junger Erwachsener jedoch gegen das internalisierte Minderwertigkeitsgefühl auf und kompensiert es mit einem übertriebenen Gefühl der eigenen Wichtigkeit, könnte er wie jemand klingen, der als Kind übermäßig gelobt wurde. Er könnte
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