Wenn Eltern es zu gut meinen
zu beginnen ist, die sechs Lebensregeln zu befolgen, die ich im vorigen Kapitel dargestellt habe. Eine ernsthafte religiöse Haltung sollte das Einfühlungsvermögen und Mitgefühl mit uns und anderen
stärken, während sie spirituell erfrischend ist, wie ein Vogel, der aus dem Ei schlüpft.
Wenn wir die spirituelle Entsprechung zwischen unseren meditativen Einsichten und dem Dienst an anderen entdecken - und unseren Kindern auch zu dieser Einstellung verhelfen -, schärfen wir unser Bewusstsein für unsere Interdependenz, die tiefste Wahrheit unserer Existenz. Indem wir unsere Liebe für andere ausweiten und zugleich unsere Verbindung zur spirituellen Quelle vertiefen, besitzen wir ein natürliches Gegenmittel gegen die Ansprüche des besonderen Selbst und jeglichen Druck, uns anderen überlegen zu fühlen. Im nächsten Kapitel widmen wir uns der einzigartigen emotionalen Landschaft der menschlichen Liebe, die oft überwältigend erscheinen kann, beson ders wenn sie nicht auf einer religiösen Haltung oder spirituellen Praxis gründet.
KAPITEL 8
Liebe und ihr »naher Feind«
Die Liebe konfrontiert uns mit schwierigen Lektionen, setzt ein entwickeltes Gewissen voraus, erwächst aus unserem Mitgefühl und braucht Autonomie, um zu blühen und zu gedeihen. Die Liebe hängt auch von Hingabe und Disziplin ab, aber viele Menschen halten sie für selbstverständlich und gehen fast beiläufig mit ihr um. Wenn uns jemand auf der Straße anhalten und fragen würde: »Ist in Ihrem Leben Liebe?«, würden wir es vermutlich bejahen, ohne groß darüber nach zudenken. An jedem beliebigen Tag behaupten Menschen, dass sie das Wetter, ihr Auto, ihre Haustiere, ihre Kinder und Lebenspartner lieben (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge). Diese Oberflächlichkeit im Umgang mit der Liebe verschwindet, wenn wir tief in unser Leben und unsere Gefühle hineinschauen. Unzählige Male rufen Menschen in meinen Einzel- und Paartherapien in einem ernsten oder nachdenklichen Augenblick aus: »Ich weiß nicht, ob es Liebe überhaupt gibt!«
Es gibt wahre Liebe, aber vermutlich nicht in der Form, die die meisten von uns Liebe nennen würden. Die Liebe verbindet uns und trennt uns. Sie ist die Bausubstanz unserer Ehen und Familien, unserer Hoffnungen und Träume, aber sie zerstört sie auch. Liebe zwischen Menschen gleicht eher Steinen, die sich aneinander reiben - und dabei ihre rauen Kanten abschleifen
oder sich gegenseitig zertrümmern -, als Bächen, die zusammenfließen. Die Liebe ist schwierig und mühsam und ebenso von Kummer und Sehnsucht wie von Freude und Staunen erfüllt. Nur wenige Menschen sind imstande, richtig zu lieben, aber wenn wir nicht lieben können, wissen wir nicht, wie man richtig lebt.
Bei Liebe denken die meisten Menschen an die Zuneigung, Leidenschaft, Nähe oder Schönheit, die sie uns bringt. Wir stellen uns die Wonnen vor, Stunden und Tage mit dem geliebten Menschen zu verbringen, ihn anzufassen, zu riechen und mit ihm zu reden. Vielleicht stellen wir uns sogar vor, für immer glücklich miteinander zu sein. Leider handelt es sich dabei nicht um Liebe, sondern um ihren betörenden Zwilling, die Idealisierung. Buddhisten verwenden den Begriff »naher Feind«, um den oberflächlichen oder in die Irre führenden Zwilling eines wertvollen Zustands oder einer wertvollen Einstellung zu kennzeichnen. Im buddhistischen Sprachgebrauch können wir die Idealisierung demnach auch als Intimfeind der Liebe bezeichnen. Wenn wir Idealisierung mit Liebe verwechseln, können wir in unserer Verbindung zu anderen und uns selbst auf verletzende Weise fehlgeleitet werden.
Das besondere Selbst ist die Schöpfung der Ideali sierung. Außergewöhnlich, überragend und vollkommen - das ist keine Beschreibung eines wirklichen Menschen, einer Person mit Schwächen und Stärken. Hat man uns eingeprägt, dass wir begabt, schön, intelligent oder vielversprechend sind, können wir als Heranwachsende oft keine Schwächen und Schwierigkeiten anderer dulden und noch weniger unsere eigenen.
In dieser Selbstwertfalle sind wir nicht imstande, zu anderen echte Beziehungen aufzubauen oder uns selbst in der komplizierten, schwierigen Ambivalenz der Liebe anzunehmen.
Um uns auf die Liebe einzulassen, müssen wir unsere Ideale von Vollkommenheit oder annähernder Vollkommenheit über Bord werfen. Stattdessen müssen wir mit wiederholten Enttäuschungen, Frustrationen, Misserfolgen und Ansprüchen (unseren eigenen und denen anderer) fertig werden. Vor
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