Wenn Eltern es zu gut meinen
allem setzt Liebe voraus, dass wir realistische Erwartungen haben, tolerant gegenüber Schwächen und einfühlsam mit menschlichem Leiden sind. Bei seinen Ausführungen über Liebe zitiert der Psychoanalytiker Otto Kernberg den Dichter Octavio Paz: »Liebe ist die Schnittstelle zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Liebe … offenbart dem Wunsch die Wirklichkeit.« 1
Als Kinder sind wir alle den Unwägbarkeiten der Liebe ausgesetzt. Wir beginnen in einer Familie, einem Nährboden widerstreitender Bedürfnisse, Wünsche und Persönlichkeiten. Dort lernen wir unsere ersten Lektionen über Liebe. Während wir groß werden, wenden wir diese Lektionen immer wieder bei unseren Freunden, Partnern, Lehrern und Kindern an. Die Fehler der Vergangenheit wiederholen sich in der Gegenwart und Zukunft. Es nimmt nicht wunder, dass die Art und Weise, wie wir ursprünglich geliebt, idealisiert oder akzeptiert wurden, sich prägend darauf auswirkt, wie wir andere lieben. Zu viele »Ich bin okay, du bist okay«-Eltern haben unwissentlich den Fehler begangen, ihre Kinder zu idealisieren, anstatt sie wirklich zu lieben.
Die Eltern-Kind-Bindung
Der Reiz, Kinder zu haben, liegt in hohem Maße in der Verheißung, idealisiert zu werden und zu idealisieren. Die meisten Menschen hoffen, ein Kind zu haben, das sie über alles lieben können und das zu ihnen aufschaut. Manche Menschen stellen sich ihre Kinder ganz konkret als neue und bessere Versionen ihrer selbst vor: als blitzblanke neue Ebenbilder. Wenn wir die biologische Uhr ticken hören, denken wir nicht an durchwachte Nächte, in denen wir auf einen Jugendlichen warten, der uns auf die Frage, wo er gewesen ist, freche Antworten gibt. Wir stellen uns auch nicht ein Baby mit einer Kolik vor, das sich nicht beruhigen lässt. Wir denken an zärtliche Kosestunden und wunderbar freundliche Begegnungen.
Ganz gleich, ob Sie mir glauben, dass Idealisierung ein starker Antrieb bei unserem Fortpflanzungswunsch ist oder nicht: Wenn Sie ein Kind wollen, können Sie vermutlich an nichts anderes mehr denken. Es scheint, als könnte Ihnen ein Kind all das geben, was Ihnen bisher noch gefehlt hat. Auf jeden Fall wird Ihnen Ihr Kind eine neue Bindung bescheren.
Wir gehen Bindungen zu anderen ein, um zu über leben. Für Menschen ist die Gruppe (die Familie oder der Stamm), nicht das Individuum der Garant des Überlebens. Bindung ist die Erfahrung, sich mit einem anderen zu identifizieren - das Gefühl, dass unser Überleben vom Wohlergehen des anderen abhängt. Für den Säugling und das Kind ist das ein Fakt. Eine solche Identifikation findet in jeder Eltern-Kind-Bindung statt, und die Gefühle sind beidseitig. Kinder verspüren ihre starke Abhängigkeit von der elterlichen
Bezugsperson, und die Bezugsperson verspürt eine Identifikation mit dem Kind. Wenn das Kind ein Problem hat, hat auch die Bezugsperson ein Problem. 2
Die Bindung motiviert uns, andere, an die wir gebunden sind, genau im Auge zu behalten. Wir wollen sie in unserer Nähe wissen, weil unser Überleben von ihnen abhängt. Auch die elterliche Bezugsperson achtet sehr genau darauf, wo das Kind sich aufhält. Menschen sind mit sogenannter Trennungsangst ausgestattet, die wir mit vielen Tieren teilen. 3 Die Trennungsangst versetzt uns einen Schock, wenn wir feststellen, dass der andere, an den wir gebunden sind, verschwunden ist oder Gefahr läuft zu verschwinden.
Protest oder Wut ist der erste Ausdruck der Trennungsangst; man erlebt sie bei einem Kleinkind, das schreit, wenn die Mutter oder der Vater es in der Krippe abgibt. Das Brüllen bedeutet so etwas wie: »He, lass mich nicht allein; ich brauche dich, und du darfst nicht weggehen!« Auch die Mutter oder der Vater ist besorgt und hat Schuldgefühle. Auf einen solchen Protest folgt eine gedrückte Stimmung, eine Art Trauer oder Depression. Sie drückt etwas in der Art aus wie: »Man hat mich verlassen, und jetzt ist es aus mit mir.« Wenn das Leben weitergeht, beginnt das Kleinkind, wieder Mut zu schöpfen, zu spielen und sich auf andere einzulassen, vielleicht mit einer vagen Traurigkeit, die aber schließlich vorübergeht. Lässt man ein kleines Kind jedoch zu lange allein - kommt die Mutter tagelang nicht wieder -, reagiert das Kind gleichgültig, wenn es sie wiedersieht. Das nennt man Apathie. Man beobachtet sie bei Kindern, die von ihren Eltern über längere Zeit getrennt werden oder die verwaist sind. Apathie scheint eine biologische Reaktion zu sein, die
uns daran
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