Wenn er mich findet, bin ich tot
Behandlung. Nach zweistündiger Sitzung und letzter Föhnung ist klar, es sieht rattenscharf aus.
»Ich nicht gedacht, dass so gut dir steht«, sagt Cefika anerkennend.
Maria macht den Mund einmal auf und wieder zu, als ich mir die Mütze vom Kopf ziehe. Es verschlägt ihr die Sprache, was ich noch nie erlebt habe.
»Wir sehen aus wie Zwillinge. Jetzt hast du die gleiche Frisur wie ich.« Ich grinse sie an.
Ihre knochige Hand umfasst meine, sie zieht mich zu ihrem kleinen Wandspiegel. Ich bücke mich und wir sehen Kopf an Kopf hinein. Eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen.
»Du schpinnsch, Tilly«, sagt sie und warnt mich: »Sag jetzt bloß net ›du auch‹.«
Wir trinken einen Abschiedstee und stecken unsere fast identischen Häupter über ihrem vom Weltgeschehen überholten Diercke-Atlas zusammen. Die deutsch-deutsche Grenze und Jugoslawien sind Geschichte, aber der Polarkreis strichelt sich weiterhin da entlang, wo er immer schon war.
»In dieser menschenverlassenen Gegend, wo es hungrige Bären und Polarfüchse gibt, willsch du Skifahren. Oh, Tilly, da isch’s mir net wohl dabei.«
»In zweieinhalb Wochen bin ich wieder da.« Ich gebe ihr mein Geschenk. »Erst an Weihnachten auspacken.« Sechs Geschäfte hab ich abgeklappert. Es ist das schönste Wolltuch, das ich finden konnte.
Gerührt betastet sie den Inhalt. »I hab auch was Weiches für dich.«
Marias Geschenkpapier und das rote Band sehen gebügelt aus, als wären sie schon mehrmals zum Einsatz gekommen. Ich ahne, dass sie Socken für mich gestrickt hat, und ich weiß, dass es ihr nicht mehr leichtfällt.
Wir umarmen uns, und ich streichle ihre Haare.
Die Miene des Chefs entgleist. »Um Himmels willen, Tilly, was soll denn das?«
»Eine modische Veränderung. Sieht doch gut aus.«
Er steht auf Natur pur. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, hab’s eilig, in unsere Studierküche zu kommen.
Kolja gerät aus dem Häuschen vor Begeisterung. An Paolos Lächeln erkenne ich, dass er den Grund für meine Verwandlung errät. Sie ist Teil meiner Reisevorbereitung. Jenseits des Polarkreises werde ich die Eisprinzessin sein und mit Marias Zauberhaar alle Gefahren bannen. Ob V. G. Goedel auch dieses Jahr zu seiner Tour in den hohen Norden aufbricht, haben wir nicht in Erfahrung bringen können. Kolja sagt, Goedel dürfe das Land nicht verlassen. Das Ausreiseverbot sei nicht aufgehoben worden. Paolo hat mit unterdrückter Rufnummer in Goedels Sekretariat angerufen und sich als Servicemanager des Aurora Linna Icehotels ausgegeben. Goedels Sekretärin wusste nichts von einer Buchung.
Auf der Fahrt zum Flughafen kommt das Geplauder im Wagen ohne Wortmeldung meinerseits aus. Ich pack das nicht. Mir war bloß wichtig, unsere Weihnachtsgeschenke auf den Küchentisch des Chefs zu legen, ohne dass er es mitkriegt. Von mir kriegt er die Greatest Hits 1970–2002 und Live at Madison Square Garden , beidevon Elton John, von Paolo Lederhandschuhe, passend zu seinem dunkelbraunen Anzug, und eine Thermoskanne von Kolja.
Vielleicht freut er sich darüber.
Am Stuttgarter Flughafen schüttelt der Chef zum Abschied Kolja und Paolo die Hände. Ich klammere mich vorsorglich an meinen Taschen fest und bekomme einen Klaps auf die Schulter. »Grüße an Voito.«
»Richten wir aus. Hab schöne Weihnachtstage.«
Als wir die Sicherheitskontrolle hinter uns gelassen haben, fragt Kolja: »Ist er wirklich weg?«
Wir spielen Achtung, der Chef verfolgt uns und ducken uns im Duty-Free-Shop unauffällig hinter den Regalen weg. In der Abflughalle lassen wir uns auf die hintere Dreierbank fallen, strecken die Beine aus und behalten alle Helsinki-Fluggäste im Blick. Fast gleichzeitig fangen wir an zu lächeln. Ich freue mich auf Riski.
»Der erkennt dich doch gar nicht mehr«, frotzelt Kolja.
»Aber dich und Paolo, denn ihr habt euch kein Stück verändert«, sag ich. »Und weil er nicht blöd ist, kombiniert er, dass das blonde, auffallend attraktive Geschöpf an eurer Seite ich sein muss.«
Paolo steckt mir von links einen Kopfhörerstöpsel ins Ohr, Kolja von rechts. Ich höre links Santigold , rechts Seeed und entscheide mich, den Durchsagen zu lauschen. Witzig, ich verstehe alles, auch die dringende Aufforderung an Monsieur Giroud, sich immédiatement beim Air-France-Schalter zu melden.
Beim Anschlussflug nach Ivalo in Helsinki ernten wir andere Blicke als unsere Gangstertruppe beim letztenMal. Kein Indiz von Schwererziehbarkeit haftet mehr an uns. Wir gehen locker
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