Wenn er mich findet, bin ich tot
wir uns eine Wohnung in Berlin, studieren und machen Party.«
Koljas Stuhl stürzt um. Er packt und zerquetscht mich. »Obergestörte, hat dir schon mal wer gesagt, dass du stark bist, unzerstörbar, schön und sehr klug?«
»Aua! Hör ich ständig. Lass mich los!« Marias besticktes Tilly-Tuch liegt auf unserem hart gewordenen Brot. »Ich bin nicht Tilly Krah und auch nicht Alma Goedel. Hab schon mal die Identität gewechselt. Taufen wir uns selbst.«
Ein neuer Anfang, die Vorstellung gefällt uns.
Paolo lächelt. »Keiner weiß, wer wir sind, und Goedel sucht dich vergeblich.«
Wir spielen Verfahren durch, wie wir uns eine neue Identität besorgen können. Wir überlegen, welche Papiere man so braucht: Geburtsurkunde, Personalausweis, Zeugnisse, Fahrerlaubnis, polizeiliche Anmeldung, polizeiliches Führungszeugnis, Sozialversicherungsnummer. Sollen wir Papiere stehlen, fälschen, kaufen oder austauschen? Wie können wir neue Existenzen gründen und weiterentwickeln? Es macht Spaß. Schritt für Schritt spüren wir die wachsende Gewissheit, dass wir sehr wohl selbst über unser Geschick bestimmen können.
»Wo sind unsre adeligen Schülerausweise?«, frag ich.
»In meinem Geheimversteck«, sagt Paolo.
»Aha, und wo ist das?«
»Haha.«
Geheimversteck, das ewige Problem. Die ständige Suche nach dem sicheren Ort.
Der Chef meidet die Bibliothek, wahrscheinlich will er uns nicht über den Weg laufen. Ich habe Angst davor, dass seine verletzte Zuneigung in blanken Hass umschlägt. Was sind eure ersten Erinnerungen? Wie war eure Kindheit? Auf die Fragen aus Paolos Pseudo-Interview steht meine Antwort fest: Mein Leben ist ein Eiertanz. Immer habe ich vermieden, dass die, die mir das Leben zur Hölle machen, von mir enttäuscht sind oder sich über mich ärgern. Die vergiftete Atmosphäre im Haus lässt meine Fluchtimpulse vibrieren.
Aber zunächst muss ich die dicke Sammelmappe vonDr. Ludwig Ernst Becks loser Arbeitsblättersammlung befreien und mit meinem Alma-Marter-Material vollstopfen. In dieser Ecke der Bibliothek wird Beck Junior niemals ein Versteck von einem von uns vermuten. Er meidet alles, was mit der Arbeit seines Vaters zu tun hat. Ich schiebe die Mappe wieder auf das untere Regalbrett und packe andere, schwere Ordner obendrauf. Meine Hände haben Abdrücke auf den staubigen Hüllen hinterlassen. Sauber gewischt sieht es noch verräterischer aus. Ich hol den Staubsauger, nehme den Beutel raus und blase vorsichtig Staub in die hintere untere Regalecke.
»Was machst du denn hier?« Der Chef.
Schock. Ich zwinge mich dazu, mich nicht umzudrehen.
»Ich check nur, ob da noch was reingeht. Wollte saugen. Stör ich dich?«
Ich hab ihn nicht reinkommen hören.
»Nein, ich hol nur ein Buch.« Pause. »Nett von dir.«
Jetzt stehe ich auf und dreh mich um. »Hoffentlich verstehen wir uns nach der Reise wieder so gut wie vorher«, murmle ich hilflos. Drei Tage noch, dann fliegen wir zu Voito Riski ins Eis. Allein, ohne den Chef.
»Tja«, sagt er. Nicht unfreundlich, aber auch nicht versöhnlich. »Wir werden sehen.«
Wir werden sehen. Klingt nach Vorbehalt, Skepsis. Wir werden sehen , hat der Blinde gesagt. Ich bin wieder allein mit dem Staubsauger und meinen düsteren Gedanken. Der Chef will nichts zu unsrer Versöhnung beitragen. Plant er, uns loszuwerden?
Unversöhnlichkeit bedeutet Gefahr.
30
Tödliche Gefahr
Ich sitze im Salon Ivana&Cefika ♥ Hairstyling&Beauty und lasse mir trotz heftiger Proteste Cefikas die Haare platinblond färben.
»Mädchen, wirst du aussehen wie Kopf in Sack mit Puderzucker gesteckt!«
»Ja, genau, platinblond wie eine Weltraum-Blondine.«
»Bist doch ein schönes Mädchen! Warum blond? Willst du Plastikpuppe sein?«
Ich sag »Ja.«
Sie seufzt und macht sich ans Werk. Die Umlackierung dauert, macht aber nichts. Ich habe Zeit mitgebracht und träume vor mich hin. Ivana und Cefika fahren beruflich zweigleisig, da muss ich nicht nachbohren. Schon bei der Begrüßung, »Hallo, ich bin Cefika, setz dich, Spitzen schneiden?« konnte ich ihre Stimme der Rathaus-Putz-Kombo zuordnen. Und obwohl ich mich dafür schäme, kann ich den Gedanken nicht verdrängen, ob ich vielleicht den Putzschlüssel klauen sollte, um im nächtlichen Amt neue Identitätspapiere abzustempeln? Nein, Quatsch, wir haben kein Schlüsselproblem, sondern ganz andere Sorgen, aber an die will ich nicht denken. Abgesehen von den beißenden Gerüchen entspanne ich mich unter Cefikasfachkundiger
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