Wenn er mich findet, bin ich tot
offen«, schlage ich vor. »Wir werden das ja nicht bis in alle Ewigkeit so handhaben.«
Paolo reißt Maul und Augen auf. Kolja kichert. »Gut gesprochen, Tilly.«
»Okay, aber wir brauchen Computer«, sagt Paolo, und es klingt, als ob er mitmachen und verhandeln wolle. »Hab keinen Bock, immer Beck zu fragen, wenn ich ins Internet will.«
»Wir brauchen alle einen. Also drei«, sagt Kolja.
»Und ich brauch einen Roller«, sagt Paolo.
»Wir brauchen zwei. Ich kann auch den Schein machen. Nur Tilly braucht keinen, die kann laufen oder hinten mitfahren.«
»Okay«, sag ich. »Ist das der Plan?«
Kolja gähnt und nickt, aber Paolo schränkt ein: »Teilweise. Morgen fahren wir zu dritt zur Schule, weil ich während des Unterrichts unseren persönlichen Lehrplan für die nächsten anderthalb Jahre ausarbeite. Immerhin bin ich der Älteste von euch.«
»Das klingt übel«, stöhnt Kolja. »Mach mal halblang, Alter.«
Ich geh ins Bett und wundere mich darüber, wie einfach es ist, die Jungs dazu zu kriegen, das zu machen, was ich will. Trotz der schlechten Neuigkeiten schlafe ich darüber ein.
27. 1. 13, Lauterstetten
Ich bin in einem riesigen Haus. Liege auf dem Rücken in einem riesigen Bett. Da ist noch jemand.
Ich falle durch die Matratze in einen Abgrund.
Endlos.
Wache mit Herzrasen auf.
Am Stehtisch beim Stadtbäcker im Bahnhof von Bad Stockbach stellt uns Paolo nach der Schule sein brutales Programm vor: zuerst den externen Hauptschulabschluss, danach einen Französisch-Sprachkurs und dann, so bald wie möglich, den Sekundarabschluss I. Während wir die Mathe-Übungen durchgegangen sind, hat er sich ausführlich von Frau Huber beraten lassen.
»Ziel ist der vorgezogene Realschulabschluss mit Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe. Kapiert? Man kann ihn machen, wenn der Hauptschulabschluss besser als 2 wird.«
Alles klar. Nach unseren einschlägigen Erfahrungen zieht die Schule als Disziplinierungsanstalt für alle Zeiten nicht mehr. Kolja und ich stimmen Paolos Plan zu, weil wir wissen, dass unsere Lernmethoden nicht nur sauber sein werden. Das stellt einen Anreiz dar.
»Aber wie sieht es mit unserer Anwesenheit aus?«, will ich wissen. »Wenn wir nie da sind, ist ein gutes Abschneiden bei der Prüfung nicht glaubwürdig.«
»Dann werden wir halt hin und wieder am Kurs teilnehmen und bei den Zwischenprüfungen gut abschneiden«, sagt Paolo.
»Eine Frage«, sagt Kolja.
Paolo, gnädig: »Bitte.«
»Was soll der Scheiß mit der gymnasialen Oberstufe? Das will keiner.« Unterstützungsheischend sieht er mich an.
»Doch, ich«, widerspricht Paolo. »Wenn meine Brüder aus dem Knast kommen, bin ich an der Uni.«
Kolja lacht: »Jaja, Dicker, alles klar.«
Der Chef hat recht. Paolo schießt übers Ziel hinaus und übertreibt maßlos. Ich sag nichts, lass ihn seine Träume haben und träume meine.
Für Kolja sind ALLE Türen IMMER zum Aufmachen und Reingehen da. Schultüren inklusive. Wo er die Aufgaben für den Test her hat, frage ich nicht, weil ich fürchte, er hat sie aus Frau Hubers Wohnung geklaut. Wir bereiten uns effizient und zielgerichtet auf die Englisch-, Deutsch-, Bio- und Mathe-Zwischentests vor, und mit Erfolgsgarantie macht mir das Lernen zum ersten Mal richtig Spaß. Unsere Ergebnisse fallen mehr als vorzeigbar aus. Frau Huber hat keine Zweifel, dass wir die Prüfung bestehen, und teilt es auch dem Chef mit.
Der reagiert mit Vergünstigungen auf unsere Erfolge und wir kriegen eigene PCs. Er glaubt, es sei seine gute Idee, und wir lassen ihn in dem Glauben. Anschließend händigt er uns bei einer staatsaktmäßigen Show die Schlüssel für die Bibliothek aus.
»Kein Buch verlässt die Bibliothek. Es wird an seinen Platz zurückgestellt. Wo die Bücher stehen, das hat einen Sinn und eine Ordnung, die ihr nicht durcheinanderbringen werdet. Ihr schließt die Tür immer hinter euch ab.Keine Eselsohren, keine Seiten rausreißen, nichts anstreichen oder reinkritzeln. Ist das klar? Sonst …« Drohungen folgen auf die Warnungen, aber er vertraut uns den Schlüssel zum Heiligtum an.
Mitte Februar wird’s richtig eiskalt. Alle, denen es vorher zu warm war, klagen, dass Tiere und Pflanzen, die sich auf die moderaten Temperaturen eingestellt haben, jämmerlich erfrieren werden. In der Bibliothek ist es gemütlich und warm. Paolo bleibt trotzdem lieber in seiner Bude vorm Computer sitzen, doch Kolja wird zum Lyrikkenner, nur um Weiber rumzukriegen. Er lernt Gedichte auswendig und
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