Wenn er mich findet, bin ich tot
erscheinen.
Ich säge ein dünnes Brett zu und lege es auf meine Panikbücher im untersten Schuhfach. Der alte, stinkende Turnschuhtrick. Die vordere Querleiste verhindert, dass man irgendwas sehen kann. So, erledigt, Blick auf die Uhr, dreißig Minuten sind vergangen. Schulunterlagen durchgehen, macht alles in allem fünfzig Minuten. Mehr Stoff gibt das nicht her.
Lesen, aber was? Ich hab kein Buch.
Ich mache eine Liste und versuche, Entscheidungen zu folgenden Fragen zu treffen: Was tun an meinem Geburtstag? Welche Hobbys? Freunde? Ein Hund vielleicht? Oder lieber ein Pferd?
Nach einer halben Stunde kennt meine Verzweiflung keine Grenzen mehr. Es ist mir total klar, dass ich auf die übelste Weise versuche, die Zeit totzuschlagen. Du bist das Letzte, denke ich und merke gerade noch rechtzeitig, dass ich mich in Selbstekel wälze und anfange, mich mit Selbsthass zu überziehen. Es ist das Einzige, was ich richtig gut kann. Damit ist jetzt Schluss!
Ich fange mit Klettern an. Weil es draußen zu kalt ist, verlege ich die erste Übungsstunde auf den Heuboden und hangele mich von einem freischwebenden Balkenzum nächsten. Ich ziehe mir Holzspreißel in die Handballen, aber: ICH HABE SPASS!
Mit der Zeit sogar wirklichen Spaß. Auf meinen Schleichpfaden durchs Gebälk finde ich Verstecke. Über unserem Stockwerk gibt es einen Trockenboden und ich träume: Hier könnte ich mich mit Paolo verstecken. Kein Mensch würde uns finden. Wir wären ganz allein. Ich werde Decken hierherbringen und Kissen, beschließe ich. Plötzlich höre ich Stimmen und halte die Luft an.
»Nee Dicker, hier ist keiner.«
Das ist Paolo. Er muss unten im leeren Viehstall sein. Ich schleiche zum Rand des Trockenbodens. Ein loses Brett ächzt.
»Normal, Alter. In den alten Schuppen knarrt immer was«, sagt unten einer.
Ich linse hinunter und sehe zwei, nein, drei Typen.
Paolo schwingt sich auf ein halbhohes Mäuerchen. »Also, was ist bei eurem Angebot drin?«
»Bis hundert die Woche. Liegt an dir.«
»Nur Shit oder auch Gras?«
»Boo liefert Shit, ich Gras. Aber nicht in Kinderportionen, wenn du verstehst, Alter.«
Der Sprecher hat eine tätowierte Glatze.
»Ich brauch ’n Roller«, sagt Paolo.
»Hast du ’n Lappen?«, fragt Boo.
»Nee, muss ich noch machen.«
»Fünf- bis achthundert macht das. So viel hab ich damals für meinen Lappen geblecht. Also ich streck das nicht vor«, sagt der Glatzkopf.
Ich kann mich nicht mehr halten und brülle. »Chef, komm mal her! Paolo wird gerade als Dealer angeworben.Er braucht ’n Roller! Den besorgst du ihm doch, oder?«
Paolos wilder Blick streift meinen, bevor ein hektischer Aufbruch das Dealer-Stallmeeting beendet. Im Hof startet ein Auto und entfernt sich die Oberstraße hinunter. Auf dem Land hört man einzelne Autos lange. Als es weg ist, liege ich auf der anderen Heubodenseite unter einer Plane verborgen und höre, wie Paolo nach mir sucht.
Seine Stimme vibriert vor Wut. »Wo steckst du, Obergestörte?« Er ist auf der ersten Heubodenebene und feuert mit voller Kraft ein Brett auf den Stallboden runter. »Ich weiß, dass du hier bist!« Er macht Anstalten, über den Balken zum Trockenboden hinüberzubalancieren, traut sich aber nicht. »Wenn ich dich finde, gibt’s Ärger! Du tickst nicht richtig, Tilly Krah.«
Ich lächle verkniffen. Hahaha, niemand versteckt sich besser als Tilly Krah.
15
Ich bin nicht Tilly Krah.
Um herauszukriegen, wer man ist, ist Lauterstetten ein guter Ort. Paolo sieht das anders. Seit meiner Beendigung seiner senkrechtstartenden Karriere als Dealer und dem damit erlittenen Autoritätsverlust bei seinen haarlosen Freunden betreibt er verbissen Krafttraining. Er tänzelt herum, als wäre er stets in Bereitschaft, einem die Fresse zu polieren. Und während Kolja und ich über seine blöden Hanteln stolpern, entwickelt er einen wahren Brust-Geschenkkorb.
Selbstredend hab ich dem Chef nichts von Paolos Drogenverhandlung im Stall erzählt. Kolja auch nicht. Bei uns ist es seither merkbar stiller geworden. Mit mir spricht Paolo nämlich gar nicht mehr, er ignoriert mich total. Macht mir aber nichts. Auf seine Sprüche bin ich eh nicht scharf. Ich komm allein klar. Meinen Geburtstag hab ich im Kurbad in Bad Stockbach gefeiert und anschließend das Tagblatt besucht. Obwohl sie nicht wusste, dass es mein Geburtstag ist, hat sie einen Apfelkuchen gebacken. Einfach so, weil sie sich freut, wenn ich sie besuche. Das Tagblatt hält viel von mündlicher
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