Wenn er mich findet, bin ich tot
flüstert sie ihnen ins Ohr. Jeder Widerstand schmilzt dahin, keine kann ihm widerstehen, wenn er sie mit Gedichten überhäuft, behauptet er.
Und wenn ich frage: »Was willst du denn mit denen allen?«
»Rummachen«, sagt er dann. »Was ist mit dir?«
»Ich? Mit dir? Rummachen? Niemals!«
»Doch nicht mit mir!« Tut empört. »Mit irgendeinem?«
»Ich interessiere mich nicht für irgendwen. Danke, kein Bedarf.«
Ich mutiere stattdessen zur Leseratte. Spannender als alle gesammelten Klassiker zusammen lesen sich nämlich die Arbeitsunterlagen von Dr. Beck. Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, dass das Tagblatt recht hat. Ich muss es ihr lassen: Im Haus spukt’s. Die ruhelose Seele vom alten Beck geht um. Sein Geist wandert in der Bibliothek hin und her und bläst mir seinen kalten Hauch ins Genick.
Aaah! Huhuuu!
Dauernd knarrt etwas, fällt runter, quietscht, ächzt.
Natürlich geht’s in seinen Arbeitsunterlagen ausschließlich um Leichen, Tote, unfreiwillig Gestorbene, Getötete Todesursachen und so weiter. Logisch, ich habe nichts anderes erwartet. Doch ich stoße trotzdem vollkommen unvorbereitet auf unglaubliches Zeug und lese atemlos.
Meine Nackenhaare sträuben sich. Ich kann nicht glauben, was ich in Dr. Becks Liste, IV . Nicht identifizierte Leichenfunde 2000–2010, lese:
Nr. 79-W-6-091019: weibl., 6 J., Todeszeitpunkt: ca. 02-05 2004, Datum des Fundes: 19. 10. 2009, Fundort: Gemarkungsgrenze Buchstädt und Eichwitz …
»Hör auf, den Kopf zu schütteln, der fällt sonst runter«, sagt Kolja beim Rausgehen.
Ich kriege nicht mit, dass er was sagt, was er sagt, dass er geht. In meinem Kopf zucken Blitze, und im grellen Licht sehe ich Zusammenhänge aufblitzen, die bisher im Dunkeln lagen. Und mit einem Mal, wie bei einem Blitzeinschlag, verstehe ich etwas. Mir wird heiß und kalt. Mein Herz schlägt wild und ich kann den Gedanken nicht mehr wegschieben.
Ich bin nicht Tilly Krah.
16
Tilly Krah ist tot.
Der Wind heult ums Haus. Es ist späte Nacht. Vor mir auf der Bettdecke liegt Dr. Becks Liste, aufgeschlagen bei Nr. 79-W-6-091019 . Die rechtsmedizinische Untersuchung des sechsjährigen Mädchens hat keinen Nachweis auf ein Gewaltverbrechen ergeben. Der Leichnam lag schon seit circa fünfeinhalb Jahren in den Resten einer alten Wäschekiste, ehe Waldarbeiter beim Aufbau eines Jägerstandes auf das illegale Grab gestoßen sind. Das war im Herbst 2009. Da war ich im Heim, sonst hätte ich es mitbekommen. Die Fundstelle, Gemarkungsgrenze Buchstädt und Eichwitz, liegt auf meiner damaligen Rennstrecke, genau zwischen Tante Mandys Haus und meiner alten Schreckensheimat.
Am 16. Januar bin ich fünfzehn geworden. Ich atme vorsichtig aus, als könnte mein Atem alles durcheinanderbringen. Angst packt mich. Ich will nicht, dass meine Ahnung Gewissheit wird, obwohl ich weiß, fühle, fürchte, spüre: Das Datum stimmt nicht. Es ist gut, dass ich im Bett liege, denn der Boden unter mir trägt mich nicht mehr. Er lässt mich fallen. Ich versinke in ihm und spüre, wie die Erde um mich herum friert. Wurzeln erstarren, alles wird zu Eis und bricht auseinander. Tief unter miroder in mir höre ich Schreie. Eine Wäschekiste ist doch kein Sarg!
Ich trage den Namen eines toten Mädchens. Viel zu dicht bei mir ist der Tod. Tillys Tod. Taub und benommen macht mich seine Nähe. Ich weiß nichts mehr – am allerwenigsten, wer ich bin. Bloß wer ich nicht bin, das weiß ich und sehe es in schrecklichen Bildern vor mir.
Mit einem Sprung ist Paolo am Herd, zieht den Milchtopf von der Flamme und rettet so die Milch vorm Überkochen.
»Was soll ’n das werden?«
»Kakao.« Er schüttelt den Kopf und stiert mir auf die Beine.
»Wieso bist du noch nicht fertig?«
»Kann heute nicht.«
»Okay, ich hau mich wieder hin. Ich geh nicht …«
»Allein? Musst du nicht. Ich bin ja auch noch da«, sagt Kolja und wirft sein Tasche aufs Sofa. »Ich komm mit. Nach der Schule treff ich mich mit Olga am Bahnhof.«
»Was ist? Bist du krank, Tilly?«, fragt Paolo. Einfach so: nüchtern, sachlich, brutal-neutral, ohne einen Hauch von Mitgefühl.
»Ich bin nicht krank und ich bin nicht Tilly.«
»Ja, ja, das sind die Worte des obergestörten Fräulein Krah«, kommentiert Kolja.
Ich schütte Kakaopulver in die heiße Milch und beschließe beim Rühren, nach Hause zu fahren. Was ein böser Witz ist! Aber er aktiviert meine überreizten Lebensgeister. Mit dem Kakao ziehe ich mich in mein Zimmer zurück, pack die Tasche
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