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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rapp
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und warte, bis ich die ersten Lebenszeichen aus dem Erdgeschoss höre.
    »Chef, ich muss mit meiner Schwester reden.«
    »Ruf sie an«, sagt er.
    »Nein, ich muss hin. Es ist wichtig.«
    Beck stellt frustriert seine Kaffeetasse ab und schüttelt den Kopf.
    »Tut mir leid.« Ich meine es ernst.
    »Was ist los, Tilly? Wieso sprichst du nicht mit mir? Ich meine mehr als das, was du dir zwischen Tür und Angel von mir mühsam aus der Nase ziehen lässt.«
    »Tut mir leid.«
    »Mit Riski«, er benutzt den Nachnamen so wie ich, er nennt ihn sonst Voito, »hast du doch auch gesprochen. Muss man zwanghaft mit dir durch die Gegend rennen, bevor du mit einem redest?«
    »Die Obergestörte und zwanghaft, das bin ich für euch. Und es stimmt.« Pause. Womit könnte ich ihn milde stimmen? »Ich hatte es noch nie so gut wie hier bei dir, Chef.«
    Er stöhnt. »Du machst es einem nicht einfach.« Er schüttelt resigniert den Kopf. »Wann bist du wieder da?«
    »Morgen.«
    »Nimm dein Handy mit.«
    »Das bringt nichts. Es ist nie da, wo ich bin, oder ich bin nicht rechtzeitig dran …«
    »Du nimmst es mit. Ich will dich erreichen können. Klar?«
    Ich nicke. »Fährst du mich zum Bahnhof?«
    »In Ordnung, ich muss sowieso nach Stuttgart. Halbe Stunde noch, okay?«
    Mehr als das! Stuttgart habe ich nicht zu hoffen gewagt. Es erspart mir ewige Warterei auf zwei zugigen Regionalbahnhöfen. »Danke.«
    Fieberhaft suche ich nach einem Gesprächsthema für unsere gemeinsame Fahrt. Die tief verschneite Landschaft, durch die wir flitzen, gibt kein schau mal hier und kuck mal da her. Soll ich ihn fragen, ob er seine Freundin besucht, die in Stuttgart wohnt? Nein, zu indiskret. Aber was dann?
    »Was meinst du, wann du mit der Renovierung fertig bist?«, frage ich beiläufig.
    »Nie«, er seufzt. »Ich versuche damit, die bösen Geister zu vertreiben, die mein Vater durch seine Tätigkeit ins Haus geschleppt hat.«
    Ich kann nicht anders, ich muss kichern, obwohl der Chef alles andere als amüsiert geklungen hat. »Das Tagblatt und damit die Weltöffentlichkeit weiß von den Geistern.«
    »Vor Maria bleibt nichts verborgen. Gar nichts, kein böser Geist und auch die guten nicht.«
    Hä, woher weiß er, dass ich sie besuche? »Äh, meinst du mich?«
    »Ganz Lauterstetten fragt sich, was die Maria und das Zigeunermädchen mit der Sherpamutter miteinander zu besprechen haben.«
    Jetzt grinst der Chef und ich nicht mehr. Ich kann’s nicht ab, wenn andere über mich labern. Am liebsten wär ich unsichtbar. Prompt fällt mir kein Gesprächsstoff mehr ein. Bläulich schimmert der Schnee in der Morgendämmerung und ich sehe Sandras Schneegrab vor mir.
    »Ein endloser Winter ist das«, rutscht mir nach einer Pause heraus.
    Zustimmendes Nicken vom Chef. »Weil wir so lange im Eis waren. Ich könnte es gut verstehen, wenn du in denSüden fahren wolltest. Deine Schwester hat dich nicht ein einziges Mal angerufen. Niemand von deiner Familie. Wissen die überhaupt Bescheid, dass du kommst?«
    »Nein«, sag ich ehrlich. »Sonst haben sie nur Zeit, sich auf Lügen vorzubereiten.«
    »Was willst du von ihr?«
    »Kindheitssachen, damit mach ich grad rum.«
    Ich versuche, von mir abzulenken. »Was hat denn dein Vater für eine Tätigkeit ausgeübt?«, frage ich, als hätte ich keine Ahnung.
    Der Chef quittiert meine Bemühung, das Gespräch am Laufen zu halten, mit einem verzweifelten Grinsen. »Er war Rechtsmediziner. Und er hat wahnsinnig gern meiner Mutter und mir von seinen Fällen erzählt. Beim Abendessen, zum Beispiel. Dies zum Thema Kindheitssachen. In meinen Albträumen kommen immer Leichen vor, die nicht vollständig sind.«
    Ich hab keine Ahnung, wie alt der Chef ist, und frag ihn: »Wie alt bist du?«
    »Am 7. Mai werde ich neununddreißig.«
    »Wird man den Scheiß nie los?«
    »Fürchte nein.«
    »7. 5. 74, das kann ich mir merken. Am 8. 5. haben wir unsre Prüfung.« Seine Mutter hat er nie erwähnt, also frage ich auch nicht nach, wo sie ist. Wir schweigen, aber jetzt empfinde ich die Stille als nicht mehr so bedrückend.
    »Tilly?«
    Ich mach die Augen auf. »Was ist?«
    »Du hast gestöhnt.«
    »Tut mir leid.«
    Er schüttelt den Kopf. »Lass mal das ständige Bedauern bleiben. Wir sind gleich da.«
    Ich muss ewig mit einem ausgeliehenen Albtraum vom Chef gepennt haben. Eine Wäschetruhe kam auch darin vor, eine ganz kleine. Stöhnen? Ich könnte schreien.
    Gute Reise, Tilly.
    Ab Stuttgart Hbf 08:51, an Halle-Neustadt 14:40.
    Ab

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