Wenn er mich findet, bin ich tot
Überlieferung. Ich weiß, wann wer hergezogen ist. Ich kenne die alteingesessenen Familien und weiß, wer von denenüberzeugte Nazis waren oder noch sind. Alle unehelich Geborenen samt den Umständen ihrer Herkunft und Geburt sind mir bekannt. Vom Tagblatt erfahre ich, mit welchem oder welchen Mädchen Kolja aktuell um die Häuser zieht.
»D’ Hanna hot er gern. Aber wenn’s Nacht wird, druckt er sich mit der Mia rum und noch später mit der Lea hinter der Schulmauer. Ein Herzensbrecher isch des.«
Am liebsten höre ich ihren besorgten Lobeshymnen bezüglich meines fast täglich praktizierten Trainings zu. Meine Laufklamotten sind immer im Rucksack. Nur, wenn ich für sie was aus der Stadt mitbringen soll, ziehe ich mich nicht im Rastkircher Bahnhof um, sondern fahr mit dem Bus zurück. Dafür kontrolliert sie die Oberstraße, die sie fast der ganzen Länge nach von ihrem Fenster aus im Blick hat. Maria Kindler ist meine zweiundachtzigjährige Freundin.
»Es isch viel zu warm, Tilly.« Noch nie war’s im Januar so warm. Besorgtes Kopfschütteln: »Glimakataschtrof.«
Ich ziehe mich zweimal um und dann noch ein drittes Mal, weil ich nicht wie zweimal umgezogen aussehen will, wenn gleich zum vierten Mal das Sonntagsessen beim Chef stattfindet.
»Was gibt’s?«, frage ich munter.
»Gulasch, Spätzle, Salat«, sagt der Chef kurz angebunden.
»Kann ich was helfen?«
»Kolja macht das schon.«
Er fragt nie, wie’s beim Vorbereitungskurs läuft oder wieso Paolo nicht mit mir spricht. Für ihn ist selbstverständlich,dass wir uns selbst um unseren Kram kümmern. Aber als ich ihn nach Büchern gefragt habe, stand am nächsten Tag oben auf dem Flur ein Regal voller Bücher neben meiner Zimmertür. Krimis, Biografien, Klassiker, Reisereportagen …
Hinter mir poltert es. Mit einem Bündel Feuerholz auf dem Arm steht Paolo hinter mir und starrt mich kalt an. Ich geh zur Seite und stehe prompt Kolja, der aufdeckt, im Weg.
Beklommen setze ich mich an den Tisch. Im Camp war unser Miteinander vergleichsweise einfach, obwohl wir viel weniger Platz hatten.
Kolja füllt die Gläser, der Chef die Teller. Wir essen.
Nach zwei schweigsamen Minuten sagt der Chef: »Voito Riski hat heute angerufen.«
»Die Biathlon-Meisterschaft ist doch erst in drei Wochen«, sage ich. »Was hat er denn erzählt?«
»Ingo Feist ist nicht tot.«
»Was?«
Ich bin aufgesprungen, merke es aber erst daran, dass mich Kolja an der Hand zurückzieht.
»Kommissar Mieto hat Voito gebeten, es uns zu sagen.«
Ich starre mein Gulasch an und verstehe gar nichts mehr.
»Sandras Mörder lebt noch?«, fragt Kolja ungläubig.
Und Paolo: »Gibt’s doch nicht! Der ist tagelang unterm Eis abgetrieben worden! Das soll der überlebt haben?«
»Es ist anders. Der Mörder von Sandra ist tot …«, sagt der Chef.
Doch Kolja fällt ihm ins Wort: »Und wer hat dann auf Tilly geschossen?«
»Der Mörder von Sandra hat auf Tilly geschossen. Das steht fest. Und auch, dass er tot ist, steht fest. Aber es ist nicht Ingo Feist.«
Tod, tot, Mörder, geschossen … Mir wird schwindelig.
»Wer denn dann?« Paolo brüllt fast.
»Das wissen sie nicht.«
»Und woher wissen sie dann, dass es nicht Ingo Feist ist?«, flüstere ich.
»Weil Ingo Feist in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main einsitzt. Er ist im Gefängnis«, seufzt der Chef. »Wir sollten essen. Es wird kalt.«
Keiner macht Anstalten. Ich kann gar nicht, ich zittere zu sehr. Paolo sieht es. Er nimmt meine linke Hand und hält sie fest. »Kippst du um?«
»Nein, nie wieder«, sage ich. Ich hab so eine Wut, dass ich fast keine Luft krieg, und schreie los: »Ich werde nie wieder in Ohnmacht fallen!« Ich mach mich von ihm los und renne raus, nach oben, in mein Zimmer. Was ist das bloß für eine Scheiße, diese Sache mit Frankfurt? Was soll denn das?
Ich liege auf meinem Bett und starre aufs Fenster. Dahinter ist es schwarz. Schwarz, lauernd und unheimlich. Es geht wieder los. Ich weiß es. Die merkwürdige Ruhe, wenn man zu dem Unfrieden in unsrer WG überhaupt Ruhe sagen kann, ist vorbei.
»Tilly, komm runter.« Paolo lehnt am Türrahmen.
Ich steh auf, blicke ihm in die Augen und sag: »Tut mir leid, dass ich dir dein … Geschäft vermasselt hab.«
»Schon gut.« Und auf dem Flur sagt er: »Ich hab das beschissene Gefühl, dass es wieder losgeht. Wir müssen zusammenhalten.«
Ich habe einen extrem riesigen Frosch im Hals, deshalb nicke ich nur.
»Hört euch das an«, sagt Kolja, als
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