Wenn er mich findet, bin ich tot
wir uns wieder an den Tisch setzen. »Die Identitätspapiere von Ingo Feist, also sein Personalausweis und Führerschein, sind aus der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt verschwunden. Verschwunden, entwendet, geklaut worden, einfach weg. Der Personalausweis von Ingo Feist, der im Knast sitzt, also sein echter Perso, ist im Rucksack von Sandras Mörder, der auf dich geschossen hat, gefunden worden.« Kolja lässt diese Information auf unsere Gehirne einwirken.
»Nicht jeder kann in die Generalstaatsanwaltschaft latschen und sich einen Satz Papiere von einem Häftling rausholen«, fährt der Chef fort. »Kommissar Mieto vermutet einflussreiche Kreise hinter der Art und Weise der Papierbeschaffung.«
»Und damit auch hinter dem Mord an Sandra und dem Anschlag auf Tilly«, ergänzt Paolo.
Von mir aus hätte er das nicht aussprechen müssen. Meine Panik blüht auch so in den schrillsten Farben. Fieberhaft überlege ich, ob die GDS, die Gesamtdeutsche Security , Zugang zur Staatsanwaltschaft haben könnte. Und wenn ja, wie kann ich das herausbekommen?
»Voito sagt, die finnische Justiz kocht den Skandal hoch. Alle Zeitungen sind voll davon. Eetu Mieto war mehrfach im Fernsehen.«
»Warum sind wir nicht von der Frankfurter Polizei informiert worden?«, will Paolo wissen.
Der Chef zuckt mit den Achseln. »Zwei deutsche Beamte sollen sich mit Kommissar Mieto in Ivalo getroffenhaben. Voito hat gesagt, die hätten nur versucht, den Skandal wieder runterzukochen.«
Nach dem Sonntagsessen sitzen wir oben in unsrer Küche beieinander. Etwas Gutes hat der Scheiß nämlich, Druck von außen schweißt uns zusammen. Blöd bloß, denke ich, dass es dafür Druck braucht. Aber weil es so ist, werde ich ab jetzt auch mit Druck arbeiten, ihn gezielt einsetzen.
»Wenn wir jemals aus unserem Betreuungszustand rauswollen, brauchen wir eine vorzeigbare Schulbilanz«, sage ich und beachte die ungläubigen Blicke der Jungs nicht.
»Was hat denn das jetzt mit Pseudo-Ingo Feist zu tun?«, fragt Kolja und lässt sich aufs Sofa fallen.
»In Lauterstetten gibt es sechsundzwanzig richtig gute Stellen für Heckenschützen. Rastkirch und Bad Stockbach nicht mitgerechnet. Ich geh nicht mehr allein zum Kurs.«
»Immer verwechselst du alles mit allem, Tilly! Ob du es glaubst oder nicht, es ist wirklich kein Anreiz für Kolja und mich, uns für dich oder mit dir abknallen zu lassen«, sagt Paolo.
»Dann sag du mir mal, wieso du zu Beck und nicht ins Heim gegangen bist?«
»Wegen meinen Brüdern. Ich will nicht da sein, wenn sie aus dem Knast kommen.«
»Dauert das nicht noch drei, vier Jahre?«
»Wer weiß?«, fragt er zurück. »Gute Führung?«
»Ach so! Plötzlich leuchtet das alles so ein! Wenn die rauskommen, willst du rein in den Knast. Daran arbeitestdu«, sage ich zynisch. »Wär’s nicht besser, du wärst dann richtig weg?«
»Die sind anhänglich, sehr anhänglich. Da gibt’s kein richtig weg. Du hast keine Ahnung von meiner Familie!«
Recht hat er. Ich weiß nie, wovon er eigentlich spricht. Meint er Familie im Sinne von Mama, Papa, Brüder? Oder meint er die Mafia? So oder so, Familie ist sein wunder Punkt. Der wunde Punkt von uns allen. Der wunde Punkt an sich.
Ausgestreckt liegt Kolja auf dem Sofa, seine Augen sind zu. »Ich hab’s schon mal gesagt, Tilly, du besorgst das Unterrichtsmaterial, ich die Prüfungsunterlagen.«
Jetzt werde ich aber sauer. »Was soll das, Kolja? Ich bin doch nicht dein Hiwi!« Arrogantes Arschloch, denke ich.
Kolja richtet sich auf. »Wenn hier jemand den Hiwi macht, dann ich! Ich beschaffe uns die Prüfungsfragen vor der Prüfung. Kannst du das verstehen, du dummes Mädchen? Damit wir uns vor der Prüfung gezielt auf die Prüfung vorbereiten können und gute Prüfungsergebnisse haben werden, damit wir dann ein sehr gutes Zeugnis kriegen! Das ist es doch, was du willst!«
»Und wie, bitte schön?«, frage ich ungläubig, weil ich ihn so in der Tat nicht verstanden habe.
»Das ist meine Sache. Aber du und Paolo, ihr geht mit mir dafür den Schulstoff durch, den ich versäume, weil ich uns in der Zeit die Prüfungsaufgaben besorge.«
Paolo, empört: »Was? Ich soll mitten in der Nacht als Tillys Bodyguard nach Bad Stockbach fahren und freiwillig stundenlang den langweiligsten Schulstoff aller Zeiten durchgehen, während du auf mysteriöse Meisterdiebweise die Prüfungsunterlagen klaust?«
Kolja nickt.
»Lassen wir doch einfach für die Zukunft gerechte und demokratische Möglichkeiten
Weitere Kostenlose Bücher