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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rapp
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Halle-Neustadt 15:25. an Bitterfeld 16:22.
    Die Landschaft wird im Affenzahn an mir vorbeigezogen. Ich bleib stehen und grüble zurück. Mein Leben rückwärts gibt nichts her. Ich wühle in Bilderfetzen und hau sie mir um die Ohren. Nie hab ich mich gefragt, wieso ich mich kaum an etwas erinnern kann. An meine Kindheit bei Tante Mandy habe ich null Erinnerung. Erst ab der Einschulung gibt es ein paar vage Erinnerungsfetzen. Sonst ist alles Rennen, Laufen, Stürzen, Springen, Flitzen, Flüchten. Über Zäune, Hecken, durch den Wald. Konnte ich nicht rechtzeitig abhauen, gab’s brutale Schläge, von ihr oder von ihm. Kann ich mich nicht erinnern, weil mein Leben zu beschissen war? Hab ich mir eingeredet, ich kann mich an nichts erinnern, weil ich gestört, zwanghaft, paranoid und saudumm bin? Nach Sandras Tod hat mich Beck direkt mit der Nase darauf gestoßen und ich hab immer noch nichts geschnallt.
    »Deine Mutter hat gesagt, du wärst nicht ihr Kind.«
    »Sie verliert leicht mal den Überblick bei ihrer großen Kinderschar. Ich hab jahrelang bei Tante Mandy gewohnt, ihrer Schwester. Fast bis zur Einschulung. Früher hab ich immer geglaubt, dass Tante Mandy meine Mutter ist. Auf jeden Fall hab ich es lange gehofft.«
    »Aha. Sie hat, äh, sich beschwert, ich hätte sie doch erst vor Kurzem nach dir gelöchert. Und da hätte sie mir doch schon gesagt, wo du steckst und dass du nicht ihrs wärst.«
    Ich hab’s auf den Suff geschoben, hab gedacht: Klar, ich hab halt ’ne Mutter, die nicht will, dass ich ihr Kind bin. Aber irgendwoher habe ich noch eine andere vage Vorstellung von einem anderen Leben als dem, das ich kenne. Und das macht mir richtig Angst.
    »Tschuldigung.«
    Jemand stößt gegen mein Knie. Ich blicke in ein grinsendes Männergesicht und schiebe mich zurück auf meinen Sitz. Hat sich der Zug gefüllt? Ich sehe mich um. Nein.
    Noch breiteres Grinsen, blonde Föhnfrisur, MacBook Pro, iPhone. »Ich beobachte dich schon eine Weile.«
    Alarm!
    »Wärst du interessiert zu modeln?« Lächeln. Der ganze Kerl ein einziges Lächeln. Kommt er mir bekannt vor? Keine Ahnung. Draußen fliegt eine verschneite Biogasanlage vorbei.
    »Nein.«
    »Interessiert es dich gar nicht?«
    »Nein.«
    Sattes Lachen. Hahahaha. »Das hört man nicht oft. Ich bin Model-Scout. Ich sehe viele Gesichter. Und ich sage dir, du hast ein besonderes Gesicht. Wie groß bist du?«
    Ich explodiere: »Ich werde nicht mit Ihnen mitkommen, damit Sie Fotos von mir schießen können, die Sie dann irgendwelchen einflussreichen Leuten zeigen!« Noch lauter: »Ich werde nicht Ihren Freunden oder Ihnenselbst einen blasen, damit ich auf die Titelseite vom ›Apotheker-Blättchen‹ oder des ›Sparkassen- und Raiffeisenbankenmagazins‹ komme! Verschwinden Sie oder ich schreie!« Das ist hart am Geschrei.
    Mein Gegenüber verschwindet augenblicklich.
    Die restliche Strecke kann ich nicht einmal darüber nachdenken, wieso ich nicht denken kann. Ich bin einfach in Aufruhr. Fotos! Das Letzte!
    Bitterfeld an 16:22 hat sich nach hinten auf an 16:41 verschoben. Der Anschlusszug nach Loßig ist weg. Keinen einzigen Gedanken und zwei Stunden später um 18:49 erreiche ich Buchstädt. Eine weitere halbe Stunde Fußmarsch und ich klingle an Tante Mandys Tür.
    Es brennt Licht. Sie muss da sein.
    Meine Schwester Daniela macht die Tür auf und sagt: »…………….. .«
    »Hallo, Daniela«, sage ich. Sie hat ein paar Kilo zugelegt, seit ich sie vor vier Jahren das letzte Mal gesehen habe. Sie ist erblondet, sieht ganz gut aus.
    »Mensch, Tilly. Du hast echt Sinn für überraschende Auftritte. Muss man dir lassen, hast du immer gehabt.«
    »Komm ich ungelegen?«
    »Nee. Ja.«
    Hinter Daniela erscheint Tante Mandy. Geisterhafter als alles, was dem Chef und dem Tagblatt je die Ruhe geraubt hat. Augen aufgerissen, Mund halb geöffnet. Alt ist sie seit unsrer letzten Begegnung geworden. Mandy Zabel hat immer auf sich gehalten, wie sie das selbst ausgedrückt hat. Sie hat auf sich gehalten, nicht geheiratet, immer gearbeitet. Ihre Schwester, meine Mutter, nicht. Und nicht nur das, ihre Schwester, meineMutter, hat obendrein den falschen Mann, meinen Vater, geheiratet.
    »Guten Abend, Tante Mandy.«
    Tante Mandy mit zitternden Lippen: »Tilly, komm doch rein.« Sie geht voraus in die Küche  – immerhin. Das Wohnzimmer wäre noch förmlicher gewesen. Was hab ich mich immer darüber gewundert, dass ich gar nichts von meinem Leben bei TANTE Mandy weiß? Nichts, kein

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