Wenn er mich findet, bin ich tot
Bild, kein Ton, kein Geruch, abgesehen von meinem Wunsch, bei ihr wohnen zu können. Tausendmal lieber wäre ich bei ihr gewesen als ZU HAUSE bei meiner MUTTER und meinem VATER.
»Ich bin nicht Tilly.«
Tante Mandy schwankt.
Daniela haut gegen den Türpfosten und brüllt: »Hammer!«
Das heißt: JA.
Beide brechen sofort in großes Jammern aus.
Ich habe das Gefühl zu verdursten und schenke mir selbst ein Glas Milch ein, weil meine Gastgeber meine Gegenwart unter dem Druck der Ereignisse verdrängt haben.
Erst nach dem zweiten Glas wendet sich Mandy unter Tränen an mich: »Tilly lag morgens tot im Bett. Ihr Herz hat im Schlaf einfach aufgehört zu schlagen.«
»Wann war das?«
»Es war der 16. Februar, ein Monat nach ihrem sechsten Geburtstag. Sie war so ein liebes, kleines Mädchen. Mein hübsches, kleines Mädchen«, heult Mandy. »Ich hab mich immer um sie gekümmert. Sie war schwach und meistens krank, aber so lieb.« Soweit ich weiß, hat Mandykeine eigenen Kinder. »So zart war sie. Ganz feine rotblonde Locken hatte sie. Sie war mein Ein und Alles.«
Ich kann sie kaum noch verstehen.
Daniela tätschelt ihren Arm.
»Und was dann?«, frage ich.
»Ich hab nicht zuerst den Hausarzt angerufen, sondern Kathrin.«
Ihre Schwester, meine MUTTER. Klingt so, als würde Mandy das heute noch bitter bereuen. Ich hab immer gewusst, dass Mandy Angst vor meiner MUTTER hat. Jeder hat Angst vor ihr.
»Der Alte war damals im Knast«, sagt Daniela.
Mandy schnieft und schüttelt den Kopf über ihre Schwester. »Kathrin hat nie, nie, nie auf mich gehört.« Lautes Heulen, Schluchzen, Zähneklappern. »Sie hat Tilly selbst begraben. Ihr eigen Kind!«
Wütend starrt mich Daniela an, als wär es meine Schuld.
»Und wieso?« Ich kapier gar nichts, ich muss einfach weiterfragen.
Mandys Gestammel entnehme ich: Kathrin Krah fand es praktischer und billiger, den Tod ihrer Tochter zu verschweigen. Irgendwie hat sie darauf gesetzt, dass das Amt bei ihren zahlreichen Blagen den Überblick verloren hätte. Eins mehr, eins weniger … Sie brauchte das Kindergeld.
»Ich bin am nächsten Tag aus Kleingruna weggezogen, hab mein Haus verkauft und das hier gekauft«, sagt Mandy und schnäuzt sich die Nase.
»Was ist mit mir?«, frage ich.
Ich kann die beiden unmöglich fragen: Wer bin ich?
Mir ist total klar, dass ich das selber rauskriegen muss.
»Ich hab dich gefunden«, sagt Daniela. »Im Schuppen bei den Hühnern. Zwei Wochen nach Ostern. Du musst dich da schon ’ne Weile versteckt haben. Du hast unsre Eier geklaut und Maiks Klamotten von der Wäscheleine genommen. Die hattest du an, und unglaublich gestunken hast du.«
Daniela starrt mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ich glaube, sie versucht rauszukriegen, was ich weiß. Aber ich sehe nur übergroß und im Detail den Gartenkalender an der Wand.
Da ich nichts sage, macht sie weiter. »Was du gesagt hast, hat keiner verstanden. Ziemlich irre war das. Du hast gebissen und gekratzt. War arschklar, dass du nicht freiwillig aus dem Schuppen kommst. Total durchgeknallt. Die Alte hat dich aufgepäppelt. Du warst wie ’n Tier und sie war richtig nett zu dir.« Von dieser Tatsache heute noch irritiert, schüttelt Daniela den Kopf und schränkt ein: »Na ja, am Anfang, später normal.«
»Anfang Mai hat sie mich angerufen und gesagt, ich hab ’ne neue Tilly.« Mandy schüttelt den Kopf. »Sie hat nie, gar nie auf mich gehört.«
»Uns hat sie hintereinanderweg durchgeprügelt. Das ist Tilly, hat sie gebrüllt, die bleibt bei uns. Tilly ist eure Schwester! Sie war bei Tante Mandy. Keine Fragen mehr! Kapiert?« Daniela lacht bitter. »Keiner hat mehr gefragt. Und ich musste in meiner Bude einen Platz für dich freischaufeln.«
Mandy schnäuzt sich die Nase. »Anfang Juli hat sie wieder bei mir angerufen. Das Schulamt hat ihr die Einschulungsaufforderung für Tilly geschickt, weil Kathrin sie bis Ende Juni noch nicht in der Grundschule angemeldethat. Von wegen, das Amt merkt sich nicht jedes Krah-Kind …« Mandy lacht bitter. »Im Kindergarten war Tilly nie. Sie war zu schwach. Deshalb war sie ja bei mir, und wenn ich auf Arbeit war, hat Anne Thiel auf sie aufgepasst. Die war Rentnerin und sehr lieb zu Tilly.« Ihr Redefluss stockt. »Kathrin denkt, ich bin blöd. Sie hat nie auf mich gehört. Andauernd hat sie mich gebraucht, immer hab ich ihr helfen müssen, aber sie denkt heute noch, ich wär zu doof, um was zu merken. Sie rechnet immer nur, was für sie rausspringen
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