Wenn er mich findet, bin ich tot
Paatsjoki war zugefroren, also eine gute Übungsfläche zum Langlaufen. Die weite Fläche reflektiert das Licht. Da oben ist es dunkel, und es war nach fünf, als wir auf dem Fluss ankamen. Riski, unser finnischer Bauleiter, hat mir Langlaufen beigebracht. Ich wollte die Grundlagen an Paolo und Kolja weitergeben. Wir sind also über den Fluss gelaufen. Auf der anderen Seite war die Hütte.«
»In der Hütte hat man Spuren sichergestellt. Wieso bist du ausgerechnet da hin?«
»Ich wollte nur kurz checken, wie weit man von der Hütte die Loipe überblicken kann, auf der ich immer mit Riski gefahren bin«, sag ich leise.
Meine Antwort kommt nicht nur für Paolo und Kolja unerwartet.
»Hast du das Kommissar Mieto auch gesagt?«, fragt Beck verstört.
Nein, hab ich nicht. Ich zeig auf den Aktenstapel und sag zu Preuß: »In meiner Akte steht, dass ich eine paranoide Störung habe, Verfolgungswahn, Panikattacken und eine extreme Kontrollmacke.« Die Blicke von Paolo und Kolja kleben jetzt auch an den Mappen. »Die Psychologen haben das als Folge der Misshandlungen meiner Eltern erklärt. Mieto ist darauf rumgeritten, dass der Mörder Sandra mit mir verwechselt haben könnte, weil sie meine Laufsachen anhatte und sich die Haare schwarz gefärbt hat. Und weil ich mich immer verfolgt fühle, hatte ich Panik, dass der Mörder Riski und mich von der Hütte aus beim Laufen beobachtet haben könnte. Im Leben hab ich nicht damit gerechnet, dass er zurückkommt. Da sind Polizeihubschrauber gelandet. Das hätte er im Umkreis von zig Kilometern mitgekriegt.«
»Konntest du denn von da aus die Loipe überblicken?«, fragt Preuß.
»Ja, über eine Strecke von etwa zwei Kilometern.«
»Lag der Fundort von Sandra Seiwert in diesem Bereich?«
»Nein, etwa einen halben Kilometer dahinter, hinter einem Hügel, aber in direkter Linie zur Hütte. Er hätte Sandra also von der Hütte aus sehen können und hatte genug Zeit, sie zu verfolgen. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Ja.«
»Hat er aus der Nähe auf sie geschossen?«
»Die Untersuchung hat ergeben, dass der Schuss aus etwa fünfundzwanzig Metern Entfernung getätigt wurde. Wieso fragst du?«
»Weil es schrecklich ist, wenn man Angst hat und von jemand verfolgt wird, der schneller ist.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass dir dieses Erlebnis auf dem Eis noch zu schaffen macht. Erzähl weiter, was ist an der Hütte …«
Ich fall ihm ins Wort. »Wieso lag Sandra rechts von der Loipenspur auf dem Rücken? Hätte sie nicht nach vorne fallen müssen?«
»Sie wurde bewegt. Der Mörder hat sie in diese Position gebracht«, sagt Preuß.
»Dann wollte er sie also ansehen.« Ich höre Paolo, Kolja und Beck nicht einmal mehr atmen.
»Du hast eine gute Beobachtungsgabe«, sagt der Staatsanwalt. »Fahr jetzt bitte mit deiner Schilderung fort. Im Protokoll steht, dass die Hüttentür nicht abgeschlossen war.« Seine Stimme klingt neutral, aber in seinem Blick lese ich, dass er uns das nicht abnimmt.
»Das konnten wir nicht wissen, als wir die Böschung hochgekraxelt sind. Und kaum waren wir oben, kam schon das Schneemobil angerast.«
»Und daraufhin habt ihr euch verbarrikadiert«, sagt Preuß zu Paolo und Kolja, »und du bist losgefahren, um Hilfe zu holen. Ist ein Schneemobil etwas so Ungewöhnliches?«
»Die Gegend ist menschenleer, da fährt niemand einfach so rum. Ich hab gedacht, das ist er. Ich hatte Angst, dass wir es zu dritt nicht schnell genug über den Fluss schaffen.« Sie unterbrechen mich nicht, als ich die Verfolgungsjagd übers Eis schildere.
»Im Polizeibericht steht, dass du sehr schnell bist, wörtlich steht da ›olympiareif‹«, sagt Grau, der Staatsanwalt.
»Die Finnen sind fanatische Wintersportler. Ich bin ein totaler Angsthase. Die kapieren nicht, dass ich aus Panik und nicht aus sportlichen Gründen laufe. Egal.« Preuß und Grau kapieren das möglicherweise auch nicht. »Wenn der Mörder es auf Sandra abgesehen hatte, warum ist er zurückgekommen? Er hat sie erschossen, umgedreht und angesehen. Wieso ist er zurückgekommen? Denken Sie auch, dass Sandra sterben musste, weil er sie mit mir verwechselt hat?«
Falls sie es noch nicht gedacht haben, will ich, dass sie es tun. Meine Schuldgefühle lassen meine Stimme zittern. Ich bin nicht Tilly Krah, und wenn mich deshalb jemand umbringen will und es vielleicht noch einmal versucht, dann soll die Polizei gefälligst den Grund finden, verdammt noch mal!
»Möglich.« Grau sieht mich aus schmalen Augen an.
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