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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rapp
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kann mich nicht aufrichten, so schwindelig ist mir. Aber bevor die Jungs kommen, muss ich was im Magen haben. Zuerst auf allen vieren, dann an der Wand entlangtastend, eiere ich mit weichen Knien in die Küche.
    Auf dem Tisch stehen ein Schlüsselblumenstrauß, meine Lieblingsblumen, und mein Lieblingsquarkkuchen,von Maria Kindler gebacken, bedeckt mit einem Leinentuch. Es ist verziert mit einem gestickten Namenszug.
    »TILLY«
    Ich werde diesen Namen behalten. Komme, was wolle. Maria hat ihn in Leinen gestickt.
    Ich lasse es lange klingeln. Sie braucht immer eine Weile, bis sie am Telefon ist. »Danke, meine liebe Maria.«
    »Ach, meine liebe Tilly«, sagt Maria.
    »Ich esse jetzt den Kuchen auf, dann bin ich bald wieder gesund. Danke auch für die schönen Blumen.«
    »Ich hab dem Paolo genau erklärt, wo sie wachsen.«
    »Sie duften und es sind meine Lieblingsblumen.«
    »I weiß. Himmelsschlüssel«, sagt Maria und ich schluchze kurz auf.
    Aber mit Kakao und Quarkkuchen im Bett geht’s mir bald besser. Und kaum habe ich mein Stück aufgegessen, halte ich es im Bett nicht mehr aus. Ich zieh mich an und geh raus. Das Haus vom Chef ist das letzte in der Oberstraße und liegt am Hang. Überquert man den, blickt man in ein weites Tal. Überall regt sich der Frühling. Über allem liegt der Gesang der Vögel. Ich hole so tief Luft, bis mein Schlüsselbein kracht.
    »Wie geht’s dir?«, will Kolja wissen.
    »Besser. Der Quarkkuchen vom Tagblatt hat Heilkräfte, den sollte man auf Rezept kriegen. Und riech mal an den Schlüsselblumen«, sag ich zu Paolo.
    Paolo, der Blumenpflücker, mit unbewegter Miene: »Hm, ja. Wusste gar nicht, dass die duften. Wo gehen wir hin? Hab keinen Bock auf Becks blöden Habt-ihr-ein-konspiratives-Treffen? -Spruch.«
    Irgendwie kriegt es der Chef jedes Mal mit, wenn wir was zu besprechen haben. Dann platzt er meistens dazwischen. Wahrscheinlich fühlt er sich ausgeschlossen, wenn wir uns ausnahmsweise einig sind. Wir haben nachgeschlagen, was konspirativ bedeutet. Seitdem müssen wir auf Paolos Befehl täglich ein Fremdwort, seine korrekte Aussprache und Anwendung auswendig lernen. Er sagt, das verschafft uns einen Heimvorteil anderen Heimkindern gegenüber. Er übertreibt immer.
    Ich klettere vor den beiden auf den Heuboden. Hinter den Planen hab ich eine von Becks Leitern versteckt. Ich stelle sie hin und steige auf den Trockenboden. Das ist einfacher, als über Balken zu balancieren. Wie eine Kirche wölbt sich das Gebälk über uns. Aus den Abstellkammern hab ich alte Matratzen und Decken besorgt, entstaubt und dekoriert. Paolos und Koljas Augen leuchten auf.
    »Das ist mein Platz. Ihr denkt nicht einmal daran, irgendwelche Mädchen hierherzuschleppen. Klar?«
    »Tilly ist wieder voll da«, sagt Kolja zu Paolo.
    »Und wenn es auf der Erde kein einziges Plätzchen gibt, wo ihr euch zum Vögeln zurückziehen könnt, hier nicht. Niemals.« Das wäre besprochen.
    Sie setzen sich hin, und ich gebe Paolo das Blatt Nr. 79-W-6-091019 .
    »Wo hast du das her?« Paolo reicht es nach dem Lesen an Kolja weiter.
    »Aus der Bibliothek. Das Blatt war in dem Ordner Nicht identifizierte Leichenfunde 2000–2010 . Der alte Dr. Beck war Rechtsmediziner.«
    »Du solltest nicht so ’n kranken Scheiß lesen, bei deinen angefressenen Nerven«, findet Kolja.
    »Lädierten Nerven«, erweitert Paolo unseren Wortschatz.
    »Ich bin hundertmal genau an der Stelle, wo das Mädchen gefunden worden ist, vorbeigelaufen.«
    »Wieso?« Paolo liest noch einmal die Ortsbeschreibung der Fundstelle vor. »Kommst du von da?«
    Ich nicke. »Das Mädchen in der Wäschekiste, also das kleine Mädchen …« Ich verstumme.
    Paolo starrt mich an. »Du weißt, wer sie ist?«
    Ich nicke wieder.
    »Kennst du ihren Namen?«, fragt Kolja aufgeregt. »Ich meine, da steht Nicht identifizierte Leichenfunde . Man hört doch immer, dass Ungewissheit für die Leute, die jemanden verloren haben, das Schlimmste ist.«
    Kolja bringt mich total aus dem Konzept.
    »Das Mädchen ist doch nicht ermordet worden«, sage ich irritiert.
    »Aber das spielt doch keine Rolle!« Er kapiert es nicht. »Außerdem, wie kann man das nach vier, fünf Jahren sicher wissen?«
    »Wer ist sie?«, fragt Paolo.
    Ich hole Luft, versuche es. Ein Krächzen. Ich hole wieder Luft.
    Kolja breitet die Arme aus, als wolle er »Was jetzt?« fragen.
    »Wer ist sie, Tilly?« Paolo packt mich am Arm.
    »Tilly. Tilly Krah.« Ich flüstere sehr leise, aber sie haben mich trotzdem

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