Wenn er mich findet, bin ich tot
verstanden.
»Wer?«
»Tilly Krah.«
Stille. Nur das Gebälk knarrt.
Kolja springt auf. Beide sehen mich entsetzt an. Auch sie spüren den nahen Tod, das weiß ich. Es ist zu viel. Ein totes Mädchen sieht aus wie ich. Ein anderes totes Mädchen trägt meinen Namen.
»Das tote Mädchen ist Tilly Krah?« Paolo versucht Sinn und Leben in die Sache zu kriegen. »Und du bist auch Tilly Krah?«
Ich schüttle den Kopf.
»Was? Du bist nicht Tilly Krah?« Kolja klingt verstört.
»Nein.«
»Wer bist du dann?«, fragt Paolo.
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Kolja haut auf den Balken vor sich. »Was soll ’n das heißen – ich weiß es nicht?«
»Ich weiß nur, dass ich nicht Tilly Krah bin«, flüstere ich.
Schwindel, Versinken, Auflösung. Paolo und Kolja sind da, mit ihren Familiengeschichten und ihren Alltagsgeschichten. Was mich betrifft, bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt existiere. Hab mehr das Gefühl, eins von Dr. Becks Gespenstern zu sein. Huuuuh!
Es bleibt lange still, bis Kolja fragt: »Weißt du das von deiner Schwester?«
»Von Tante Mandy und Daniela.«
»Glaubst du, was die sagen?«, will Paolo wissen.
»In dem Fall, ja. Von sich aus hätten sie’s mir nie gesagt. Ich bin selbst draufgekommen, als ich das mit dem toten Mädchen gelesen habe. Jetzt macht nämlich plötzlich manches Sinn, was vorher komplett irre war.«
»Wie alt ist Daniela?«
»Neun Jahre älter als ich. Wir, also die Krahs, sind neunKinder. Zwischen Christian, meinem, äh, dem Ältesten, und Lisa, der Jüngsten, liegen fünfzehn Jahre.«
»Ich weiß ja gar nichts über dich!« Kolja klingt fast wütend.
Sofort fährt ihn Paolo an: »Reiß dich zusammen! Du wirst Tilly nicht anmachen, mit keiner Silbe, kapiert?«
»Klar.« Kolja nickt. »Wo liegt der Jägerstand, von dem da die Rede ist?«
»Zwischen Eichwitz und Buchstädt. Nächste größere Stadt ist Bitterfeld, vierzig Kilometer nordwestlich, in etwa.« Das sind Fakten und Tatsachen, die mir in meinem großen Schwanken auf unsicherem Grund Halt geben.
»Was haben dir deine Tante Mandy und Daniela erzählt?«
»Tilly ist bei Mandy aufgewachsen. Sie war oft krank. Bei der Alten, die ich für meine Mutter gehalten hab, hätte sie nicht überlebt. Bei uns ging’s brutal zu. Die Alte hat zu gern, zu oft und zu hart zugeschlagen. Sie war absolut unberechenbar. Der Alte war noch brutaler, bloß war der meistens zu besoffen. Tilly kam also zu Tante Mandy nach Kleingruna. Einen Monat nach ihrem sechsten Geburtstag lag sie morgens tot in ihrem Bett. Herzversagen. Die Alte hat es für sich behalten, Tilly im Wald begraben und gehofft, dass es keiner merkt.«
»Aber wieso denn?«, fragt Paolo fassungslos. »Du hast doch was von Herzversagen gesagt?«
»Sie wollte das Geld für die Beerdigung sparen und das Kindergeld kassieren. Der Alte war im Knast.«
»Manchmal würde ich am liebsten …« Kolja lässt offen,was für Maßnahmen ihm vorschweben. Er hat Tränen in den Augen und klettert wie ein Irrer die Leiter hinunter.
»Kolja! Komm zurück!« Paolos Stimme klingt hart. Er merkt es selbst. »Bitte!«
Koljas Schritte auf dem Heuboden entfernen sich, dann wird es still. Nur das Holz ächzt.
»Wir warten auf ihn«, sagt Paolo.
Ich sag gar nichts. Und dann nimmt er mich in den Arm. Ich schließe die Augen. Seine Hände streicheln über meinen Rücken. Er flüstert etwas auf Italienisch. Ich verstehe seine Worte nicht, aber ich verstehe, dass er da ist, nicht weggeht und mich festhält. Ich spüre seine Lippen in meinen Haaren. Dann lässt er mich plötzlich los, und ich sehe etwas in seinen Augen, total unverstellt und direkt. Er und ich. Und das bilde ich mir nicht ein. Mehr brauch ich nicht. Genau so ist es gut.
Ich streichle ganz kurz sein Gesicht, lass die Hand fallen, dann taucht Koljas Gesicht auf.
»Hab bloß was zu trinken geholt«, sagt er und stellt die 1,5-Liter-Cola-Flasche auf den Boden.
Wir trinken aus einer Flasche.
»Sie hat ihre eigene kleine Tochter aus Geiz begraben«, sagt Kolja. »Da musste ich kurz weg. Aber jetzt erklär mir mal bitte, wieso heißt du Tilly Krah?«
Meine Erklärung verkommt zu einem Krächzen. Ich bin so heiser, dass sie mich nicht verstehen können, und ich setze ein zweites Mal an: »Mich hat Daniela zwei Monate später aus dem Hühnerstall gezogen. Die Alte hat dann so getan, als wär ich Tilly.«
Zwei Augenpaare. Pures Unverständnis.
»Warte, warte, warte«, sagt Paolo, »das geht zu schnell. Wieso
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