Wenn es daemmert
weiß gar nichts von mir.«
Er hörte nicht auf zu lächeln.
»Du hast ihr nie einen Ton davon gesagt, dass du schon eine Tochter hast. Ich habe zwei Halbschwestern, die nicht wissen, dass es mich gibt. Und wie es aussieht, willst du daran auch nichts ändern. Richtig?«
James Cunningham schwieg und starrte aus dem Fenster des Pubs. Sein Lächeln war verschwunden. Mina folgte seinem Blick: die kleinen Fischerboote auf dem spiegelglatten Wasser im Hafenbecken, dahinter die raueren Wellen des Firth of Forth. Es regnete nicht mehr.
»Ständig ändert sich das Wetter, man kann sich hier auf nichts verlassen«, sagte James statt einer Antwort.
»Wie Recht du hast.« Mina stand auf und ging. Irgendwohin. Zu den Schiffen. James rannte hinter ihr her. Tatsächlich: Er rannte.
Sie hob die Hand, um ihn daran zu hindern, etwas zu sagen. »Bitte nicht. Ich weiß schon alles. Ich wollte immer, aber dann … Es ergab sich bisher noch nie die richtige Gelegenheit. In meiner Position kann man doch nicht so einfach … Blabla.«
»Mina, das ist nicht fair.«
»Ah, das hatte ich vergessen.« Sie stapfte weiter. Der Wind kam vom Meer und hatte die Regenwolken vertrieben. Sie ging am Hafenbecken entlang und steuerte auf die lange Mole zu, die bis zum Leuchtturm hinausführte.
»Lass uns das doch nicht alles heute besprechen! Ich finde, das ist ein bisschen viel auf einmal!«
»Wir haben uns wochenlang E-Mails geschrieben. Du wusstest seit mindestens zwei Monaten, dass ich herkommen würde. Weißt du was? Wir lassen es. Es war eine dumme Idee. Ich bin dreißig Jahre sehr gut ohne dich ausgekommen, und du, wie ich sehe, noch viel besser ohne mich. Es war ein Versuch, und er ist gescheitert. Warum belassen wir es nicht dabei?«
Er wollte antworten, aber sein Handy klingelte. Mina blieb stehen, entschied, dass es zu dramatisch wirkte, die Mole entlang aufs offene Meer hinauszugehen, und drehte um. Sie war wütend auf ihren Vater, wütend auf ihre Mutter, am meisten aber wütend auf sich selbst, dass sie diese lächerliche Hoffnung auf eine Art Familienzusammenführung gehabt hatte. Auf ein Nachhausekommen. So ging es also auch nicht mit der Suche nach dem Heimathafen. Sie würde vielleicht immer im offenen Meer treiben und nur manchmal für kurze Zeit irgendwo andocken.
Dabei war sie es mittlerweile so müde, so leid.
Sie entdeckte einen Durchgang zwischen zwei Häusern, der zu einem kleinen Stück von Felsen durchsetztem Strand führte. Als Mina näher kam, erkannte sie am Algenwuchs, dass das Wasser bei Flut die Häuser fast erreichte. Auch die Felsen waren glitschig und voller Algen, aber Mina lockte der Anblick der Isle of May. Sie lag genau zwischen den beiden Häusern im dunkelblauen Wasser, und nach dem Regen war der Blick so herrlich klar, dass Mina die Insel zum Greifen nah erschien.
Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen. Sie zog sich ihre Baseballkappe tiefer ins Gesicht. Sie wusste, ihr Vater würde bald hinter ihr stehen, er sollte nicht auf die Idee kommen, dass sie geweint hätte.
Sie ging weiter. Ging in Richtung des Wassers, balancierte über die Felsen, die bereits in das Wasser des Firth of Forth reichten. Keine zehn Fuß von ihr entfernt stieg eine schwarze Wolke empor: Krähen flatterten hoch, stießen ihr Krächzen aus. Es bedeutet nichts, sagte sie sich und atmete tief ein, um sich von dem Schrecken zu erholen. Sie lenkte ihren Blick weg von den Vögeln auf die Felsen, sah eine Muschel, wollte sie aufheben, hockte sich hin.
»Mina, nicht!«, hörte sie James schreien. »Geh da weg! Sieh nicht hin! Sieh zu mir!«, rief er und rannte auf sie zu, sprang über Steine, stolperte, rannte weiter. Er packte sie, bevor sie verstand, zerrte sie hoch, schloss sie in die Arme. »Nicht, nicht«, sagte er, und seine Stimme klang noch fremder als zuvor. »Schnell, geh zurück, und warte im Pub.«
Dachte er etwa, sie wolle sich umbringen? »Lass mich!« Ungeduldig befreite sie sich aus seiner Umklammerung und glitt aus. James wollte sie festhalten, verlor das Gleichgewicht und rutschte zusammen mit ihr ab. Beide landeten im flachen Wasser. Mina versuchte, Halt zu finden, ihre Hand ertastete etwas Weiches, und sie verstand, warum ihr Vater sie hatte wegholen wollen. Das Weiche war ein schwarzer Stoff, der hier nicht hingehörte. Ein schwarzes Kleid, aus dem ein weißer Arm herausragte, oder das, was noch von ihm übrig war. Ihr Blick folgte dem zerfleischten Arm zu der Stelle, an der der Hals sein müsste. Er war
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