Wenn es daemmert
zahlt.«
Die Menschen hatten schon so vieles ausprobiert. Von Diktatur bis Demokratie, vom Harem bis zum unauflöslichen Bund für die Ewigkeit, von jungfräulich in die Ehe bis zur freien Liebe. Aber eines hatten sie dabei offenbar nie ändern können: dass Blut dicker als Wasser war. Im Guten wie im Schlechten. Kaum war man verwandt, wurde alles in einem anderen Licht gesehen. Der Fehltritt des Einzelnen beleidigte die ganze Sippe.
Mina wünschte sich ein System, in dem man sich seine Verwandtschaft aussuchen konnte. Die ganze Verwandtschaft: Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten. Denn der ehrenwerte Richter David Barrington stellte umgehend klar, dass ihm das Blut, das sie beide verband, eindeutig zu dick war.
»Wenigstens trägst du nicht unseren Namen!«, rief er ins Telefon, und seine Stimme rutschte um mehrere Oktaven in die Höhe.
»David, ich habe nichts getan. Ich bitte dich doch auch nicht um einen Gefallen, sondern nur darum, mir einen guten Anwalt zu empfehlen.«
»Das ist ein Gefallen! Außerdem, wenn du nichts getan hast, brauchst du keinen Anwalt!« Das Ausrufezeichen war so groß, dass der Ben Nevis daneben winzig ausgesehen hätte.
»Die Polizei hat es auf mich abgesehen und will mir etwas anhängen, ich muss mich dagegen wehren. Und dazu brauche ich einen Anwalt. Ich kenne das schottische Rechtssystem nicht gut genug.«
»Du weißt nicht, was du uns antust! Ich traue mich nicht mehr auf die Straße! Meine Nichte ist eine Mörderin!«
»Verdächtige in einem Mordfall«, sagte sie nüchtern.
»Alles andere von dir wird jetzt wahrscheinlich auch noch rauskommen! Junge Dame, ich sage dir etwas, und ich sage es nur einmal: Auf mich kannst du nicht zählen. Wie stehe ich denn da, wenn ich dir einen Anwalt empfehle? Unmöglich, was du von mir verlangst!«
»Und wenn überall in der Zeitung steht, dass ich unschuldig bin und mich die Polizei zu Unrecht belästigt hat, dann sage ich allen, dass du dir zu fein warst, mir zu helfen. Wie kommst du eigentlich dazu, mir einen Mord zuzutrauen?«
David lachte hysterisch. »Deine Mutter ist auch so ein Dickkopf. Immer nur an sich selbst hat sie gedacht. Nie an die Familie. Was sie unserem armen Vater angetan hat, du hast ja keine Ahnung! Gequält hat sie ihn! Es ist ein Wunder, dass er nicht viel früher aus Kummer über seine Tochter gestorben ist. Ein Wunder!«
Sie legte einfach auf und atmete tief und gleichmäßig. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis er sie zurückrief.
»Alastair Hopkirk. Du bekommst seine Nummer über die Auskunft. Verlierst du auch nur ein Wort darüber, dass du die Empfehlung von mir hast, sorge ich persönlich dafür, dass du in diesem Land keinen einzigen fähigen Anwalt mehr bekommst. Mein Gott, ist das alles peinlich!«
Sie legte wieder ohne ein Wort auf.
Hopkirk wusste sofort, wer sie war. Jeder, der dieser Tage in Schottland Zeitung las oder fernsah, wusste, wer sie war.
»Hat David Sie zu mir geschickt?«, fragte er.
»Aber, aber. Ich würde ihn niemals mit so etwas Profanem belästigen«, antwortete Mina.
»Er stirbt sicher gerade vor Scham.« Sie hörte förmlich das breite Grinsen in seinen Worten.
»Helfen Sie mir?«
»Natürlich. Ich freu mich drauf.«
Sie nannte ihm ihre Adresse und Telefonnummer. Er würde um zwei Uhr bei ihr sein.
»Noch scheinen die Journalisten nicht zu wissen, wo ich wohne. Die Chancen stehen gut, dass Sie mein Haus unbehelligt erreichen.« Sie steckte vorsichtig den Kopf ins Wohnzimmer und schaute durch das vordere Fenster auf die Straße. Niemand war zu sehen.
»Darf ich David anrufen und ihm erzählen, dass ich Sie jetzt vertrete?«
Nun war es an Mina zu grinsen. »Grüßen Sie ihn bitte, und sagen Sie ihm, wie leid es mir tut, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen.«
4.
Das Mädchen in seinem Garten streckte ihm die Zunge raus und klopfte weiter gegen die Scheibe. Sie hatte einen fuchsroten Pagenschnitt und trug eine große Sonnenbrille im 70er-Jahre-Stil. Dazu ein bunt gemustertes Minikleid und eine Jeansjacke. An den nackten Beinen: hochhackige, offene Schuhe. Die Zehennägel dunkelrot lackiert wie die Fingernägel. Das Dunkelrot passte zum Ton ihres Lippenstifts. Sie zog einen Schuh aus und drohte ihm, damit die Scheibe einzuschlagen.
Er öffnete das französische Fenster und bemühte sich vergeblich, das Lachen, das um seine Mundwinkel zuckte, zu unterdrücken.
»Kennen wir uns?«, fragte er höflich.
»Lass mich rein, verdammt.« Mina drückte sich an
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