Wenn es daemmert
noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Oder nur einmal: letztes Jahr. Weinte, bis ein Arzt kam und ihr eine Spritze gab. Danach schluchzte sie nur noch ganz leise, und die Beleidigungen, die sie vor sich hinmurmelte, galten nicht mehr nur Brady, sondern auch dem Mann, wegen dem sie in diesen Abgrund gestürzt war, aus dem sie wohl nie wieder herauskommen würde. Jedenfalls nicht ohne ihre Tabletten, und erst recht nicht, wenn Brady sie mit einem Fußtritt wieder hineinstieß.
»Neil Gayod. Ich wollte den Namen nie wieder in meinem Leben aussprechen«, sagte sie und schnäuzte sich. »Außerdem weiß ich nicht, warum ich Ihnen das alles erzählen sollte.«
McCallum hielt ihr die Pappbox hin, damit sie sich ein neues Taschentuch nehmen konnte. »Weil ich Arzt bin? Schweigepflicht, Sie wissen schon. Weil Sie wollen, dass Ihnen jemand ein Rezept gibt?«
»Ich würde lieber mit einem anderen Arzt reden. Sie haben mich schon mal bei Brady reingerissen, Sie erinnern sich?«
McCallum lachte. »Ich bitte Sie, Sie haben versucht, mich zu erpressen, das fällt wohl kaum unter die Schweigepflicht.«
»Sie arbeiten doch gar nicht in diesem Krankenhaus, oder?«
»Doch. Hier und als Polizeiarzt. Mein Kollege hat mich gerufen, weil er etwas überfordert mit Ihnen war, und ich kenne Sie ja nun schon ein bisschen.«
»Kennen ist wohl übertrieben.«
»Schicke Frisur, übrigens. Ich muss Sie aber nicht Lindsay nennen, hoffe ich.«
Mina sah ihn böse an. »Sie wussten, dass ich es war?«
»Nun, ohne Make-up hätte ich Sie schneller erkannt. Aber ja, ich hab gewusst, dass Sie das sind. Und ich habe auf der Party kein Wort zu Brady gesagt.«
Mina nickte. »Gut, also was wollen Sie wissen?«
»Neil Gayod. Erzählen Sie von ihm.«
»Seinetwegen war ich ein Jahr lang in Therapie.«
»Und offenbar sind Sie noch lange nicht da, wo Sie sein wollen, sonst müssten Sie sich nicht immer noch Prozac einwerfen wie Smarties. Haben Sie einen Therapeuten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin ja gerade erst in Schottland angekommen. Und muss auch gleich wieder weg. Wussten Sie, dass mich die Uni rausgeworfen hat? Kurzes Gastspiel.«
»Erzählen Sie«, wiederholte er.
Und sie erzählte von Neil. Wie sie sich bei ihrem Studium in Cambridge kennengelernt hatten. Er fing mit seiner Doktorarbeit an, sie machte ihren Master. Sie wurden ein Paar. Er unterstützte sie, ermutigte sie zu schreiben, half ihr, ihre Geschichten an Verlage zu schicken, freute sich mit ihr über ihre ersten Erfolge. Als die Auflagen aber stiegen, als sie zu Interviews geladen wurde, als ihre Bücher in andere Sprachen übersetzt wurden, da musste es angefangen haben. Sie hatte es nicht gemerkt, sie machte sich heute noch Vorwürfe, dass sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Aber damals hatte sie immer geglaubt, es sei genau das eingetreten, was auch er sich für sie gewünscht hatte. Neil hatte seine Stelle an der Universität und machte in der akademischen Welt Karriere. Kein Grund, neidisch zu sein. Dachte sie. Er sagte ihr, sie sollten ihr Privatleben vor der Öffentlichkeit geheim halten, und sie hatte dies für einen vernünftigen Vorschlag gehalten. Wenn niemand etwas über ihre Beziehung wusste, konnte auch niemand dreckige Wäsche waschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ein Apartment in London, wo er sie regelmäßig besuchte. Er reiste durch die Welt, um Vorträge zu halten, sie wegen ihrer Lesungen.
Das nächste Buch, das sie schrieb, stieg in der ersten Woche auf Platz 1 der Bestsellerlisten – sogar in den USA . Es dauerte nicht lange, und ihrem Agenten wurde für ihre Bücher ein Filmvertrag nach dem anderen angeboten. Die Presse liebte die attraktive Starautorin und veröffentlichte ihre Fotos, wann immer sich eine Gelegenheit bot.
Mina hatte hart für ihren Erfolg gearbeitet, er hatte zwar nicht Jahrzehnte auf sich warten lassen, war aber auch nicht über Nacht gekommen. Sie fand das Timing genau richtig. Und da sie zu ungeduldig war, um auf seinen Antrag zu warten, fragte sie Neil, ob er sie heiraten würde.
Neil hatte gelächelt und sie geküsst, was sie als Zustimmung aufgefasst hatte. Aber in den nächsten Wochen sprach er das Thema nicht mehr an, und sie war wieder viel unterwegs wegen der anstehenden Verfilmung ihres Buchs. Es gab den üblichen Ärger mit den interessierten Produzenten, die eine Fassung drehen wollten, die Mina nicht gefiel. Zu viele Klischees, die vermeide ich doch in meinem Buch, sagte sie. Und die
Weitere Kostenlose Bücher