Wenn es daemmert
Jahreszahlen. Mathematische Formeln. Dadurch verbesserten sich Petes Schulnoten so sehr, dass ein Studium der nächste logische Schritt war. Seine Eltern konnten es kaum glauben, und einzig seine ältere Schwester, die schon lange ausgezogen war und als Sekretärin in einer Papierfabrik in Manchester arbeitete, glaubte, dass er es schaffen würde. Alle anderen in der Familie fanden die Idee mit der Universität nur deshalb gut, weil dann mehr Platz in der Wohnung war. So nahm er einen Studentenkredit auf, bewarb sich für Physik und wurde in St. Andrews genommen.
In dem Bewusstsein, wahrscheinlich die einzige männliche Jungfrau weit und breit zu sein, beschloss er eines Abends, nach Dundee zu fahren und es mit einem Mädchen zu versuchen. Seit es im Nebenzimmer keinen Bruder mehr gab, der die Nächte durchstöhnte, hielt er sich mit dem Masturbieren zurück. Er hatte die Theorie aufgestellt, dass er durch zu häufiges und zu heftiges Masturbieren übermäßig empfänglich für sexuelle Reize geworden war, statt abzustumpfen. Jetzt war vielleicht alles wieder im normalen Bereich.
Natürlich war es das nicht. Als er ein Mädchen gefunden hatte, das bereit war, sich von ihm im dunklen Hinterhof eines Pubs nehmen zu lassen, musste er erkennen, dass sich nichts geändert hatte. Er hatte seine Hose noch nicht richtig aufgemacht, da kam er schon und spritzte auf den Rock des Mädchens. Sie knallte ihm eine, fing an zu heulen und rannte weg.
Also konzentrierte er sich wieder darauf, langweilige Dinge auswendig zu lernen. Das brachte ihn immerhin halbwegs sicher durch die Phase, in der er mit den Mädchen knutschte. Selten genug passierte dies, aber er war jedes Mal stolz, nicht gleich zu ejakulieren, nur weil er einer Frau die Hände unter den Pulli geschoben hatte. Er schlief mit keiner dieser Frauen, und keine schien besonders enttäuscht darüber zu sein.
Und dann hatte Doug diese Prostituierte für ihn bestellt. Es wäre alles gut gegangen, wenn sie den Mund gehalten hätte, wenn sie nicht diese Dinge gesagt und die Konzentration auf seine Formeln gestört hätte, die unterdrücken sollten, was in ihm schlummerte: eine Brutalität, die, wenn er über einen bestimmten Punkt hinaus war, nicht mehr zu kontrollieren war.
Jahrelang hatte er sich genau davor gefürchtet, denn er hatte es in seinen Träumen kommen sehen. Nun war das Unvorstellbare passiert. Er hatte einen Menschen getötet. Ein Unfall, sicher, aber er wusste jetzt, dass er sich nie in den Griff bekommen würde. Seine Angst hatte sich bestätigt: Er war nicht normal, sondern ein Perverser, der nachts durch Parks schleichen und Frauen vergewaltigen und umbringen würde. Das war seine Zukunft. Das und eine lebenslange Erpressung durch Doug, einen im Grunde völlig Unbekannten, dem er nun vollkommen ausgeliefert war.
Pete stand am Fenster des Hauses, in dem in der letzten Woche noch Matt Barnes gelebt hatte. Er sah hinunter in den Vorgarten, wo die Leute von der Reinigungsfirma ihre Sachen zusammenpackten. Er sah, wie ein Streifenwagen vor dem Haus hielt und zwei Uniformierte ausstiegen. Doug kam aus dem Haus und sprach mit ihnen.
Pete dachte darüber nach, wie hoch dieses Haus eigentlich war. Nicht hoch genug.
Aber es hatte einen Speicher.
Berlin, September 1949
Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er einen Bruder hatte. Wenn sein Bruder Arzt war, dann war alles in Ordnung, und er musste kein Geld für sie ausgeben.
»Sie ist zu weit«, sagte der Bruder.
Sie verstand mittlerweile genug Englisch, um sich zusammenzureimen, was die beiden sagten. Sie hatte lange genug im Kasino gearbeitet.
»Was will ich denn mit einem Bastard? Vater enterbt mich, wenn er Wind davon bekommt! Und die kleine Nazinutte will doch nur an mein Geld!«
»Sie ist zu weit!«
»Na und? Mach es weg, Albert! Oder soll ich bis nach der Geburt warten und dann dem Balg den Hals umdrehen?«
Sie saß noch da, wo sein Bruder sie untersucht hatte. Zwischen ihr und den beiden Männern war nur ein Vorhang.
Sie dachten, sie verstünde sie nicht.
»Keiner von uns beiden wird diesem Kind etwas antun. Beiden Kindern nicht.«
»Beiden? Hat sie Zwillinge im Bauch?«
»Nein. Sie ist selbst noch ein Kind!«
Schweigen. Und dann: »Du nimmst mich auf den Arm.«
»Was dachtest du, wie alt sie ist?«
»Zwanzig? Keine Ahnung? Sie hat gesagt … Nein, eigentlich hat sie nichts gesagt. Ich habe es irgendwo aufgeschnappt.« Er klang jetzt nachdenklich. »Wie alt ist sie?«
»Ich denke vierzehn,
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