Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Ritter Blaubart
Bericht der Reporterin zu. Keine dreißig Kilometer entfernt war wieder ein Mensch enthauptet worden. Ein junger Mann war es dieses Mal. Zwanzig Jahre alt. Man hatte ihn erst vor zwei Stunden gefunden.
„Die Polizei geht davon aus, dass der Mord gegen Mitternacht geschah. Von der Mordwaffe und dem Täter fehlen bisher jegliche Spuren. Dazu kommen weitere Rätsel. So hat sich eine junge Frau gemeldet, die berichtet, kurz vor dem Mord überfallen worden zu sein. Der Täter hat aus unerfindlichen Gründen von ihr abgelassen. Ob dieser Täter der ‚Blaubart‘ ist, ist nicht gesichert.“ Die Frau im blauen Anzug redete weiter, doch Amelie hörte gar nicht mehr zu.
Mitternacht! Zu diesem Zeitpunkt war Alain verschwunden gewesen. Er hatte sein Telefonat geführt. Konnte es sein, dass er doch etwas mit diesem Mord zu tun hatte? Dass er sie, Lara und Stefan, als Alibi benutzte? Der Gedanke war grauenhaft. Er wütete in ihr.
Alain ist kein Mörder! , schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Trotzdem machte sie den Fernseher aus, als sie Schritte hörte. Ganz so, als wolle sie nicht bei etwas Verbotenem ertappt werden. Ihre Gedanken überschlugen sich. Und wenn er es doch war? Wie schnell fuhr man mit einem Ferrari dreißig Kilometer? Ihr Blick fiel auf die beiden Schwerter an der Wand. Er hatte fechten gelernt. Sicher konnte er auch jemanden köpfen.
Ihr wurde übel und sie stellte das Tablett zur Seite.
Alain betrat den Raum, als würde er spüren, dass etwas nicht stimmte. „Ist alles in Ordnung?“
„Ja“, sie fühlte, dass ihre Stimme zitterte.
„Du siehst blass aus ...“ Er zögerte. „Ich wünschte, ich könnte noch bleiben, aber ich muss leider für ein, zwei Stunden weg.“ Sein Gesicht war verärgert. „Es ist wegen dieser Sache von letzter Nacht. Versprich mir bitte, dass du hier bleibst, Amelie. Es ist wichtig. Ich muss mit dir reden, ehe du nach Hause gehst.“ Seine Stimme war eindringlich und ernst.
Amelie konnte nur an den Fernsehbericht des Regionalsenders denken. Ihre Angst war wie ein schwarzes Loch, das jede Logik vernichtete. „Okay“, hauchte sie. Er sollte glauben, dass er seinen Willen bekam. Was sie wirklich tat, brauchte er nicht zu wissen.
Er küsste sie auf die Stirn. „Danke.“ Mit wenigen Schritten verließ er den Raum.
Amelie sprang aus dem Bett. Sie folgte ihm. Sie konnte nicht begründen, warum, aber sie wollte genau wissen, was er tat.
Er ging durch den Flur in den Gang, der zur Treppe führte. Amelie versteckte sich hinter der Biegung und folgte ihm erst, als sie ihn nicht mehr hörte. Als sie hinter der nächsten Biegung hervorkommen wollte, schrak sie zurück.
Volltreffer , flüsterte eine kalte Stimme in ihr. Da stand er. Neben einem Bild, das ein nacktes Mädchen neben einem Gerippe zeigte. Amelie wusste, dass es ein Dürer Nachdruck war.
Was tut er da?
Alain machte sich neben dem Bild zu schaffen. Er hielt etwas in der Hand, das plötzlich nicht mehr da war. Gab es ein Geheimfach in der Wand?
Er hob den Kopf und drehte ihn in ihre Richtung.
Amelie zuckte heftig zurück und lehnte sich mit klopfendem Herzen an die Wand. Sie wartete lange, ehe sie sich in das geräumige Schlafzimmer zurückzog.
Vom Fenster aus sah sie seinen schwarzen Ferrari davonfahren.
Er ist weg. Zeit, herauszufinden, was hier vor sich geht.
Amelie hatte sich flüchtig gewaschen, angezogen und war anschließend in ihrem Kleid mit dem weißen Tragebeutel zurückgekehrt. Sie sah den langen Flur mit den Spiegeln und Bildern hinunter. Es war niemand zu sehen. Sie ging zu dem Dürer, der den Tod und ein Mädchen zeigte. Neben dem Bild hatte sich Alain zu schaffen gemacht. Dort hatte er etwas versteckt.
Es geht mich nichts an , flüsterte eine Stimme in ihr. Doch ihre Neugierde trieb sie vorwärts. Schon fuhren ihre Finger über die Wand neben dem Bild. Es dauerte nicht lange, bis sie die Vertiefung fand. Sie befand sich gut versteckt in einem Blütenmuster. Die gelbe Samttapete gab ein Stück nach. Amelie drückte fester. Schon fürchtete sie, die Tapete zu zerreißen, da gab es ein leises Geräusch. Sie sah sich erschreckt um, aber außer ihr war niemand im Flur. Hastig blickte sie wieder auf die Wand. Der Lichtschalter neben dem goldumrahmten Bild war zur Seite geglitten und gab eine dunkle Öffnung frei. Sie beugte sich hinab und blickte hinein. Ein Kabel war nicht zu sehen. Der Lichtschalter war nur eine Attrappe. Vor ihr befand sich ein gut fünfzehn Zentimeter langer Hohlraum. In ihm lag
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