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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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Lehne des Sessels und lege meine Hand auf ihre Schulter. »Michi, wenn du recht hättest, wäre meine Oma zum Beispiel nicht tot.«
    »Menschen sterben, wenn sie alt sind. Daran kann niemand etwas ändern.« Sie dreht sich nicht zu mir um, fast scheint sie resigniert, so tonlos spricht sie. »Aber mit meiner Nase habe ich trotzdem recht.«
    »Und was ist mi t Jörg?«, frage ich sie. »Warum konnte ich ihn dann nicht retten?«
    Sie dreht ihrem Kopf um, sieht mir in die Augen und ich sehe, ich habe ihr noch nie von Jörg erzählt.
     

Von Jörg und farbigem Niesel (1970)
     
    Am Tag, nachdem ich Jochen den Kiefer gebrochen hatte, gingen wir morgens, wie immer, seit wir im Garten lebten, zum Duschen ins Hallenbad. Es war warm in diesen Tagen, der Sommer streckte schon seine Fühler aus, die Kastanien ihre Blüten in die Höhe. Überall roch es nach süßem Nektar.
    Seit einiger Zeit war im Schwimmbad ein Junge aufgetaucht, der mich verwirrte.
    Dem Aussehen nach war er in meinem Alter, also etwa zehn. Sein dunkles kurz geschnittenes Haar wirkte eher wie ein Schatten auf seinem Kopf. Er war so braun, als käme er gerade aus dem Urlaub und hätte jeden Tag in der Sonne verbracht. Dabei standen die Sommerferien erst bevor. Der Junge war immer allein in der Schwimmhalle. Kein Vater schien hier am frühen Morgen auf ihn aufzupassen. Und wenn er unter die Dusche kam, war er immer außer Atem und schwitzte. Aber das alles verwirrte mich nicht. Weswegen ich ihn förmlich anstarren musste, waren die Farben, die ihn umgaben. Während das Wasser gläsern und durchsichtig glänzte, stach der Schweiß gelb auf einer blauen Hülle hervor.
    »Glotz den Jungen nicht so an«, zischte mein Vater gerade an jenem Morgen aus seiner Umkleidekabine. »Bist du etwa pervers?« Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen, wohl aber mit der schlangenhaften Drohung, die in dem Tonfall meines Vaters lag. Ich konnte meinen Vater nicht sehen, aber die Stimme klang, als ob er sich aufrichtete und vor mir aufbaute. Es war unhöflich, jemanden so anzustarren. Das hatte er mir oft genug gesagt. Pervers musste ein anderes Wort für unhöflich sein.
    »Entschuldigung«, murmelte ich leise in das T-Shirt, das ich mir gerade über den Kopf streifte.
    »Bist du pervers?«, fragte mein Vater ein zweites Mal. Und bevor er wütend wurde, antwortete ich lieber ganz schnell: »Nein.«
     
    Meine Mutter hatte mir extra etwas Geld zugesteckt. »Du gehst nach dem Schwimmen geradeaus, als ob du zur Schule willst«, hatte sie gesagt. »Und dann gehst du durch den Fuhlsbütteler Damm zurück zum Schwimmbad. Es ist schon warm genug. Du kannst also ins Freibad gehen und dort bleiben, bis die Schule zu Ende wäre.«
    Sie hatte alles aus dem Ranzen geholt, meine Badehose und ein Handtuch nach ganz unten gelegt und unter den Büchern und Heften versteckt. Mama hatte aus dem Deutsch- und aus dem Mathebuch Aufgaben gesucht, die ich lösen musste, damit Papa abends etwas kontrollieren konnte. Sie hat mir geholfen, ihn zu betrügen, machte die Strafe zu einer Belohnung. Ein gebrochener Kiefer brachte mir eine Woche Ferien, Baden und die Solidarität meiner Mutter ein. Schutz, den ich ihr nie bieten konnte.
    Ich ging wie besprochen den Ra tsmühlendamm hoch, als wollte ich dort in die Schule. Mama nahm meinen Vater mit durch den Kinoblock. So nannte man eine kurze Strecke des Erdkampsweg, deren Fußweg durch einen Wall von der Fahrbahn getrennt ist. Die Läden dort sind nur durch Treppen zu erreichen und am Ende dieser Passage waren bis 1966 die Alstertal-Lichtspiele, das Kino, das ihr den Namen gab.
    Schnell waren meine Eltern nicht mehr zu sehen. Ich trödelte ein bisschen. Die Aussicht, früh am Morgen allein in einem Freibad zu sein, war nicht verlockend genug, mich zu freudiger Eile zu treiben.
    Der Weg führte mich am Gefängnis vorbei über die Alsterbrücke. Noch war es still im Schwimmbad. An den Nachmittagen konnte man das Geschrei der Kinder manchmal bis in unseren Garten hören, wenn der Wind günstig stand. Aber um diese Uhrzeit zogen höchstens ein paar Erwachsene ihre Bahnen durch das Wasser. Die Liegewiesen waren leer. Das Bad wartete auf den großen Ansturm der ersten Sommertage.
    Ich bezahlte brav meine Karte. Auf der Wiese suchte ich mir einen sonnigen Platz. Im Schatten war es trotz der morgendlichen Wärme doch noch etwas frisch. Viel Lust, ins Wasser zu gehen, hatte ich noch nicht. Ich stieg in die noch feuchte Badehose, behielt mein T-Shirt an, legte mich

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