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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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und genießen schweigend den Frieden in unserem Reich. Hatte sie einen harten Tag, massiere ich ihre Schultern.
    Kaum haben wir die Zigaretten angezündet, den ersten Zug genossen, meldet sich Michi. Sie ruft nicht an, sie klingelt gleich Sturm. Sie begrüßt weder meine Mama noch mich, als sie hereinstürmt und sowohl die Bildzeitung als auch die Morgenpost und das Abendblatt auf den Tisch wirft. »Hast du es gesehen? Du bist in der Zeitung.«
    »Hallo Michi. Möchtest du mit uns essen?« Der Versuch meiner Mutter, sie zu bremsen, ist genauso hilf- wie erfolglos. Meine Freundin reißt die Zeitungen auf, blättert darin und zeigt auf ein Foto. »Schwerer Unfall auf der Fuhlsbütteler Straße«, lautet die Überschrift und etwas kleiner darunter steht: »Wie durch ein Wunder überlebte der kleine Martin unverletzt.«
    » Spinnen die?«, fragt Michi laut. »Wie durch ein Wunder? Wenn die Fotos haben, müssen sie doch dabei gewesen sein. Du warst das Wunder.«
    »Michi, ich habe ihn nur beatmet. Das hätte jeder tun können.«
    Während Michi sich setzt, nimmt meine Mutter sich die Bildzeitung, lehnt sich in ihrem Sessel zurück und liest den Artikel. »Unverständlich wird die Reaktion des jungen Mannes auf dem Foto bleiben, der die Rettungsarbeiten behinderte«, zitiert sie.
    Wut kommt in mir auf. Auf dem Foto sieht es tatsächlich aus, als küsse ich Martins Schienbein, während der Sanitäter mich erst wegreißen muss, damit er ihm helfen kann.
    »Glauben Sie denen nicht «, ruft Michi lautstark. »Es war ganz anders!« Sie sprudelt über, als sie meiner Mama in buntesten Farben das Bein des Jungen schildert, als sei es mindestens abgerissen gewesen. »Ihr Sohn ist ein Wunder, Frau Graf. Ein echtes Wunder«, endet sie so flehend und beschwörend, wie Menschen, die sich hilflos und unverstanden fühlen.
    »Michi«, brülle ich, » halt mal die Luft an!«
    Ihre Lippen bewegen sich noch ein paar Sekunden, aber die Töne der Begeisterung versickern in ihren Stimmbändern. I n Zeitlupe dreht sie sich zu mir, während Mama laut wird. Sie hat so viele Schläge ertragen, so viel wütende Pöbeleien und so viel Ungerechtigkeit. Und auch, wenn sie sich gewehrt hat, meistens ist sie leise geblieben. Aber jetzt fährt sie mich an: »Henrik!«
    Die ganze Wut wird in diesem Moment wieder in mich zurückgedrückt. Wie ein Knebel hindert mich die Lautstärke meiner Mutter, weiter zu brüllen. Ich presse meine Finger zusammen. Warum regt Michi sich auf, warum schreit meine Mutter? Es ist das Bild von mir dort in den Zeitungen. Ich werde gezeigt, als sei ich nicht normal. Sehe ich das nicht genauso?
    Aber ich kann durchatmen, meine Mutter ansehen, Michi ansehen und leise fortfahren: »Ich habe alles falsch gemacht. Ich hätte die Beine des Jungen wegen eines möglichen Schocks hochlegen müssen. Oder ich hätte ihn in die stabile Seitenlage bringen müssen. Irgendetwas tun, das ich gar nicht weiß. So stümperhaft, wie ich zu Werke gegangen bin, ist es wirklich ein Wunder, wenn der Junge unversehrt ist. Aber ich habe wenigstens etwas getan, während alle anderen nur zugeschaut haben.«
    Daran, wie tief Michi einatmet, merke ich, dass sie etwas entgegnen will. Aber meine Mama ist schneller.
    »Was tust du da auf dem Foto?«
    »Ich wusste nicht, was ich gegen die Schmerzen tun sollte. Also habe ich den Jungen gefragt, ob ich pusten solle.«
    »Das ist eine Zeitung und es ist Sommer«, sagt Mama. »Sie brauchen etwas, worüber sie sich aufregen können. Die Menschen, die dabei waren, wissen, wie es wirklich war. Es lohnt sich nicht, wenn du dich darüber ärgerst.«
    »Mama, du musst dir am Montag in der Schule nicht die Sprüche anhören, die Fragen und den Hohn. Was sind die paar, die dabei gewesen sind gegen die vielen, die mich kennen und diesen Dreck glauben?«
    Meine Mama erhebt sich. »Wer dich kennt, wird es nicht glauben.« Manchmal haben Mütter einfach keine Ahnung. Sie geht in die Küche, dreht sich um, lächelt uns noch einmal zu. »Bevor wir verhungern, lasse ich euch erst mal allein.
    Michi war die ganze Zeit still. Erst als Mama draußen ist, sagt sie: » Das Bein des Jungen war so gebrochen wie meine Nase damals. Glaub es mir, Henrik. Die Zeitung schreibt von einem Wunder. Und das Wunder bist du.«
    Wie soll ich sie jemals davon abbringen? Es reicht doch die Wahrheit zwischen den Extremen. Ich habe weder Rettungsarbeiten behindert noch Wunder vollbracht. Ich habe nur getan, was ich konnte.
    Ich setze mich zu ihr auf die

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