wenn es Zeit ist
Wasser zu drücken.
»Bist du bekloppt?«, fragte ich keuchend und hustend, als er mich wieder losließ. »Willst du mich umbringen?« Ohne zu überlegen schlug ihm die Faust ans Kinn.
»Hey, beruhige dich. Es war nur Spaß«, stammelte er, drehte sich um und schwamm an den Beckenrand. Die Wut ließ mich schneller schwimmen, als ich es je gekonnt hatte. Aber ich holte ihn erst ein, als er sich an den Fliesen aus dem Wasser zog. An seinem Bein versuchte ich, ihn wieder zurückzuziehen. Er schürfte sich das Knie auf, doch er war an Land, ich noch im Wasser. Und ich sah wieder diesen violetten Wirbel um meine Hand. Mein Zorn verflog. Dadurch hatte er mehr Kraft. Jörg ging zurück zum Badetuch. Ich brauchte noch etwas Zeit, musste im Wasser bleiben, um den zweiten Teil meiner Kontrollverluste zu überstehen. Die Flennerei. Ich hätte behaupten können, es sei nur Wasser, aber wenn ich Schweiß an der Farbe unterscheiden konnte, konnte Jörg das vielleicht auch mit Tränen.
›Bestimmt nimmt er nur sein Handtuch und legt es anders wo hin. – War ja klar, dass ich es wieder versau. – Wer will mit mir schon etwas zu tun haben? – Warum kann ich mich nie beherrschen?‹ Immer wieder die gleichen Fragen. Immer wieder das gleiche Gefühl. Ich war selbst schuld.
Jörg wechselte nicht den Platz. Er setzte sich auf sein Handtuch, betastete die Schürfwunde an seinem Knie, verzog das Gesicht dabei. Aber er blieb sitzen, auch, als ich mich aus dem Becken gezogen hatte und zu ihm kam.
»Entschuldigung«, murmelte ich. Gern hätte ich ihn wieder berührt, gesehen, ob das violette Feld auch im Trocknen entsteht, wenn ich meine Hand in seinen Nieselregen halte. Aber dann wäre Jörg sicherlich wütend geworden und hätte sich wirklich einen anderen Platz gesucht.
Er antwortete nicht, strich nur mit dem Zeigefinger durch das Blut und leckte ihn ab. Um die Wunde hatte sein privater Regen eine andere Farbe bekommen. Er war weder blau noch violett, sondern von einem schmutzigen Grün, fast wie der ausgetretene Rasen im Schwimmbad, braun durchsetzt und nur ein paar blaue Tropfen wurden in den Wirbel gerissen.
Ich setzte mich wieder hin, konnte meine Augen nicht von diesem grünen Fleck lassen.
»Ist nicht so schlimm«, sagte Jörg nach langer Zeit. »Nur etwas aufgeschürft.«
»Ich will das doch gar nicht. Ich hasse Gewalt. Aber wenn ich wütend bin, dann vergesse ich es.« Ich saß schon viel zu lange dort, um die Tränen immer noch aufs Wasser zu schieben. Auch hatte ich das noch nie jemandem gesagt. Sonst hatte ich die Verzweiflung über mich immer in meine Einsamkeit geheult. Waren es die Farben, die mich Jörg Dinge sagen ließen, die ich normalerweise in mir vergrub?
»Ich hol mir was zu trinken.« Jörg sprang auf, als ob er mich gar nicht gehört hätte, zog ein Portemonnaie aus seiner Tasche, sah mich an und fragte: »Willst du auch etwas?«
Ich hatte Du rst, aber das Geld, das meine Mama mir gegeben hatte, reichte nicht aus, also schüttelte ich den Kopf. Jörg brachte mir trotzdem etwas mit.
Es war ein Vormittag, den ich mit Jörg verbrachte. Die nächsten Tage ging er wieder zur Schule, während ich allein im Schwimmbad Geschichten und Gedichte im Deutschbuch las und die mir von meiner Mutter gestellten Aufgaben löste, damit mein Vater sie abends kontrollierte.
Es hatte sich aber etwas geändert, wenn wir uns morgens trafen. Er versuchte immer, die Dusche neben mir zu bekommen. Wir sagten uns nur »Hallo«, wechselten sonst kein Wort. Jörg drehte sich nicht mehr mit dem Bauch zur Wand, sondern sah mich an. So, wie ich seine Farben ansah, so sah er zu, während ich mich einseifte und mich ab und zu wegdrehte, weil mein Penis steif wurde, was ich vor allem vor meinem Vater verstecken musste. Jörg zog seine Badehose weiterhin nicht aus, aber das störte mich nicht mehr. Mir reichte die Verbindung, die bestand. An die Farben hatte ich mich gewöhnt, nur eines wunderte mich. Ich konnte die gelben Schweißpunkte sehen und verfolgen, wie sie sich, je länger Jörg unter der Dusche stand, wieder auflösten. Aber hätten sie nicht mit dem Wasser über die Kacheln laufen müssen, um im Abfluss zu verschwinden?
Es war im November 1970, der Herbstwind blies uns kalt ins Gesicht, der Regen zwang uns im Garten, die meiste Zeit in der engen Hütte zu verbringen und oft kamen wir morgens schon nass im Schwimmbad an. An jenem Tag im November war es nur kalt. Die Nacht hatte uns Frost beschert. Wir gingen durch den
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