wenn es Zeit ist
gepunkteten Zahlen. Von manchen sah ich nur die Gesichter, das Haar, das meistens lang war, die Augen, die Nasen. Von anderen sah ich dieses Meer aus Punkten, das vor mir verschwamm. Und in diesem Gewirr erinnerte mich ein blauer Pol der Ruhe an Jörg. Um ihn waren die Punkte kleiner, fast wie Staubkörner. Zum Glück musste ich nicht lange vor der Klasse stehen. Ich brauchte nur meinen Namen zu sagen, musste erzählen, auf welche Schule ich vorher gegangen war und welche Hobbys ich hatte. Hobbys. - Als hätte wir uns welche leisten können. Den Grund für meinen Wechsel durfte ich auslassen. Schnell konnte ich mich auf einen Platz setzen, den ich für mich alleine hatte.
Ich tauchte in das Gewirr von Farben ein, betrachtete meine Finger, aber um sie sah ich keine farbigen Punkte.
Jan saß hinter mir. Zu gerne hätte ich mich immer wieder nach diesem Blau umgeschaut, auch, wenn es mir einen dicken Kloß im Hals verursachte. Doch es war mein erster Tag und ich hatte mir fest vorgenommen, nicht aufzufallen. Also sah ich nach vorn an die Tafel und auf Frau Richter die Lehrerin, die genau so farblos war wie ihr Unterricht.
In der Pause kam Jan auf mich zu. »Du warst vorher auf einer Realschule, jetzt bist du auf einem Gymnasium. Warst du zu gut?«
Ich zuckte mit den Schultern, wusste doch nicht, was meine Mutter und Herr Blatz sich ausgedacht hatten. Vor allem hatte ich in meinem Kopf nur Platz für das Blau. Jan war schlank und braun gebrannt. Er hatte dünnes, halblanges blondes Haar, durch das schon in diesem jungen Alter ein leichter Ansatz von Geheimratsecken schimmerte. Er sah freundlich aus, die braunen Augen gaben seinem Blick eine ruhige Wärme, die gleichmäßig strahlte. Ich muss ihn angeglotzt haben wie ein Weltwunder. Gern hätte ich ihn berührt, hätte meine Hand in sein Blau gehalten, um zu schauen, ob es dadurch wie bei Jörg zu einem violetten Strudel wird. Ich hätte ihm nur die Hand geben müssen, um ihn noch einmal gesondert zu begrüßen. Das wäre doch auch höflich gewesen, wenn er schon extra auf mich zukam. Ich tat es nicht.
»Wenn du Hilfe brauchst, frag mich einfach« , sagte er, wartete kurz auf eine Antwort, sah aber nur meinen offenen Mund, drehte sich um und ließ mich stehen. »Wir sehen uns.«
Immer wieder setzte er sich in meine Sprachlosigkeit und beantwortete mein Schweigen. Wenn ich allein über den Schulhof ging oder auf einer Bank saß, gesellte er sich zu mir. Nie gab er auf. Manchmal redete ich mit ihm, wenn er fragte, ob ich eine Aufgabe verstanden hätte, ob ich ihm vielleicht helfen könnte oder ihm etwas erklären. Ich redete mit ihm, wie mit allen und doch war er etwas Besonderes für mich.
Lag ich abends im Bett, dachte ich an die Farben von Jan, träumte davon, dass er sich zu mir setzte, mit mir redete und von sich erzählte. Ich sah uns durch das Gestrüpp am Alsterufer streifen oder im Stadtpark lungern. Und ich stellte mir vor, er besuchte mich, übernachtete, lag in meinem Bett und das Laken leuchtete blau.
›Wenn du ihm zu nah kommst, wird er irgendwann nur noch als grauer Niesel an seinem Platz sitzen und dich vorwurfsvoll antippen, bevor er in die Regenrinne fließt.‹ Die Fantasien des Halbschlafs endeten immer mit den Bildern von Jörg, den sie aus der Alsterschleuse gefischt hatten, mit dem Druck, den ich auf der Brust gespürt hatte, als wir an jenem Morgen den Woermannsweg entlang gegangen waren und mit dem Schatten, der sich zu mir unter die Dusche im Ohlsdorfer Schwimmbad gestellt hatte.
Ich musste Jan abweisen, vor mir warnen, von mir stoßen, ignorieren. Ich durfte ihn nicht in die Gefahr bringen, die ich für ihn war. Aber wie sollte ich das schaffen, ohne aufzufallen?
Michi hatte ich auch gerade kennengelernt. Aber sie hatte keine Farben. Die Gefahr, in der sie schwebte, von mir verprügelt zu werden, konnte ich vielleicht bewältigen. Ich konnte mir angewöhnen, bis zehn zu zählen, bevor ich zuschlug. Aber von der Gefahr, in der Jan bei mir war, hatte ich noch keine genaue Vorstellung, nur eine Ahnung. Ich sah die Farben. Und Jans Farbe war blau. Blau wie die Farbe von Jörg.
Jedes Mal, wenn er mit mir gesprochen hatte, wartete ich, wann er wohl nicht zur Schule kommen würde. Immer, wenn er tatsächlich krank war, rotierte ich. Der leere Platz war nicht auszuhalten. Hektisch schaute ich mich um, zuckte zusammen, wenn d ie Tür aufging, suchte nach dem grauen Nieselregen, der durch das Schulgebäude irren musste.
Sprach mich ein Lehrer
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