wenn es Zeit ist
Jeder, der diese Insel für mehr als einen Tag besuchte, tat das wegen der frischen klaren Seeluft. Für mich aber war sie stickig, nahm mir den Atem, kerkerte mich ein. Und auf einmal interessierte sich dieser junge Mann für mich und gab mir das Gefühl, jemand zu sein. Also ging ich zu ihm. Bis dahin hatte ich höchstens mal einen Zungenkuss beim Flaschendrehen bekommen. Aber noch nie hatte jemand meine Brüste gestreichelt.«
»Mama.«
Wenn meine Mutter sonst rot im Gesicht war, hatte das an Papas Schlägen gelegen. Aber in diesem Moment sah sie mir ins Gesicht, schreckte kurz auf, entschuldigte sich und wurde knallrot. »In dieser Nacht bist du entstanden«, schloss sie schnell ab.
»Dein Vater war schon längst wieder fort. Manchmal dachte ich noch an die Nacht mit jenem jungen Fremden, der liebevoll und zärtlich gewesen war. Manchmal spürte ich ihn noch oder sah ihn, wenn ich die Augen schloss. Aber er war ohne Gruß abgereist, er hatte nie versprochen, mich von der Insel zu holen. Ich war jung und dumm, aber nicht blöde genug, mir Hoffnungen zu machen. Ich behielt es als schöne Erinnerung, die mich sogar ein bisschen mit der Insel versöhnte. Immerhin hatte mir die Nacht gezeigt, dass ich auch auf Helgoland etwas erleben konnte. Doch dann wurde mir regelmäßig übel. Vor allem morgens konnte ich nichts essen. Schon der Geruch der Brötchen, die ich den Gästen brachte, ließ in mir einen Würgereiz entstehen. Oft musste ich mich an einem der Tische festhalten, um nicht umzukippen, während die Touristen ihre Bestellungen aufgaben.
»Mit dir stimmt was nicht«, stellte meine Mutter sachlich fest und schleifte mich zum Arzt. Der untersuchte mich, maß meinen Blutdruck, horchte mich ab, ließ sich die Symptome erklären und fragte mich, ob ich in letzter Zeit Geschlechtsverkehr gehabt hätte.
»Meine Tochter doch nicht«, entrüstete sich meine Mutter. »Die hat doch noch nicht einmal einen Freund.«
Es fällt schwer, das heute zu glauben, aber ich verneinte auch, nicht, weil ich lügen wollte, nicht, weil mir die Antwort vor meiner Mutter peinlich gewesen wäre, sondern weil ich ganz einfach nicht wusste, was Geschlechtsverkehr war. Hätte ich es gewusst, wäre es mir sicher peinlich gewesen. Vielleicht hätte ich meine Mutter aus dem Behandlungszimmer geschickt, aber das fiel mir gar nicht ein. Ich verneinte aus Unkenntnis. Trotzdem schickte mich der Arzt zu einem Kollegen, einem Gynäkologen in Cuxhaven. »Alles deutet auf eine Schwangerschaft hin«, erklärte er meiner Mutter. Ich war zwar siebzehn, aber man hatte uns nichts beigebracht von ärztlicher Schweigepflicht. Es kam mir nicht komisch vor, dass er seine Erkenntnisse meiner Mutter mitteilte.
Ich hatte keine ruhige Minute mehr. Schon für einen Abend und einen Morgen im Hotel auszufallen, war schlimm. Dafür allein gab es schon größte Vorhaltungen. Die Möglichkeit einer Schwangerschaft aber war der Gipfel. Noch bevor der Facharzt die Diagnose bestätigte, beschimpften meine Eltern mich als Hure, bombardierten mich mit Fragen, quetschten mich aus, wollten wissen, wer der Vater sein könnte. Und da fiel mir die Nacht ein, die ich mit dem netten jungen Touristen verbracht hatte. Diese schöne Nacht, die ich für mich behalten wollte, die meine Eltern nichts anging, denn natürlich war es mir wie jedem Zimmermädchen verboten, sich privat mit den Gästen des Hotels zu treffen.
Als ich aus Cuxhaven zurückkam, die Gewissheit auf einem Zettel in der Tasche, drehte mein Vater durch. Er hat mich nie geschlagen, aber an diesem Tag zog er sich langsam den Gürtel aus der Hose, sah in mein schweigsames und verstocktes Gesicht und sagte ganz ruhig: »Wenn du uns den Vater des Kindes nicht nennst, prügle ich ihn aus dir heraus. Wenn er dich schwängern kann, soll er auch für dich geradestehen, dich heiraten, wie es sich gehört und für dich sorgen.«
Nachdem ich die Nacht verraten hatte, schlug mein Vater die Tür hinter sich zu. Wenn ich helfen wollte, jagte er mich leise aus dem Restaurant und aus dem Zimmern. »Meine Gäste werden nicht von Huren bedient«, zischte er und verbot mir, was er mir bis zu diesem Tag befohlen hatte: In unserem Hotel zu arbeiten.
Anhand der Unterlagen suchte er die Adresse deines Vaters heraus und schrieb ihm einen Brief, der unbeantwortet blieb. Also setzte er mich mit einem Koffer in die ›Wappen von Hamburg‹, drückte mir die Adresse in die Hand und befahl mir, den jungen Mann aufzusuchen und ihm den
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