wenn es Zeit ist
Verzweiflung über mich und meine Ähnlichkeit zu Papa waren einer tiefen Traurigkeit gewichen.
Meine Mama drückte mich von ihrem Schoß. »Du wirst zu schwer für so etwas«, sagte sie lachend. Wie konnte sie mir solche Geschichte erzählen und hinterher lachen?
»Du bist nicht schuld«, fuhr sie fort, als ich mich in den anderen Sessel gesetzt und ein inzwischen schon recht trockenes Schinkenbrot genommen hatte. »Du warst nur der Grund. Unsere Eltern kannten keine Gnade. Zu dieser Zeit bekam man keine unehelichen Kinder. Selbst heute rümpfen die Menschen noch die Nase darüber, aber damals war es fast ein Verbrechen. Also mussten wir heiraten. Doch nicht einmal das versöhnte meinen Vater. Er kam seiner Pflicht nach, schickte per Postanweisung das Geld für die Hochzeitsfeier, aber weder er noch meine Mutter kamen. Sie könnten das Hotel nicht alleine lassen, hieß es.«
»Also bin ich doch schuld«, stellte ich fest. »Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten sie dich nicht gezwungen.«
»Nein. Ich bin schuld. Ich hätte niemals zu ihm aufs Zimmer gehen dürfen.«
Von ungeheurem Luxus (1973)
Ich hatte ein Bett, keine rote Plastikluftmatratze mehr, wie in der Gartenlaube. Es fehlten zwar noch Steppdecke, Kopfkissen, Laken und Bezüge. Aber es war ein Bett. Hätte ich mich nicht freuen müssen? Hätte ich nicht glücklich und erleichtert sein müssen, dankbar über so viel Glück? An diesem Abend war ich weder dankbar noch fröhlich. Es geisterten Gedanken in meine Schlafversuche, wirre, nicht zu fassende Kreisel um einen wütend um sich schlagenden Vater, um Großeltern, die ihre Tochter aus dem Haus jagen und um mich, der ich die Hand gegen Michi und meine Mama erhob, und das Reich des Friedens in ein Reich des Schreckens verwandelte. Blutige Nasen, gebrochene Knochen, Platzwunden über den Brauen, Veilchen, Stacheldraht, den ich um meinen Körper gewickelt hatte, um mich gegen alles und jeden zu schützen. Kreiselnde Verwirrung, in der Michi und Mama Goliath waren, ich David, der sich mit der Steinschleuder verteidigte und ihnen ein Loch in die Stirn ballerte. Und auch sah ich beide kolibrigroß, in Netzen verfangen, mich als Goliath, der sie mit Füßen trat. Ich war Held und Monster, Beschützer und Vernichter, Retter und Zerstörer und presste im Taumel des nahen und doch so fernen Schlafs die Zähne aufeinander, quetschte das Fleisch zwischen ihnen und biss sie vor Wut auf nichts blutig. Wüsste ich doch bloß, was mich immer so wütend machte.
Vom Segen der Unauffälligkeit (1976)
Es ist angenehm als schulischer Einzelgänger. Ich stapfe durch den frischen Sommermorgen zum ersten Schultag nach den Ferien und nicke den Klassenkameraden zu. Seit meinem ersten Tag hier an der Schule gibt es eine Art Stillhalteabkommen zwischen uns. Wir grüßen uns, und wenn es sein muss, reden wir miteinander. Aber sie lassen mich in meiner Welt. Vielleicht ist es mir deshalb gelungen, am Gymnasium nie zuzuschlagen? Ich habe mich nicht um die anderen gekümmert. Ich habe gelernt, ihnen die fertigen Hausaufgaben gegeben, sie abschreiben lassen, aber mich nie mit ihnen getroffen. Es tut auch nicht weh, wenn sie sich zu Feten oder zum Fußball verabreden.
Wir sind freundlich zueinander, mehr nicht. Weder mögen wir uns noch mögen wir uns nicht. Legt man ihnen ein Bild von unserer Klasse vor, wissen sie, wie ich heiße. In zehn Jahren müssten sie bestimmt schon überlegen. Unauffälligkeit. Das ist es, was ich anstrebe. Und so habe ich mir in der Schule eine Welt geschaffen, in der ich mich bewege, in der ich aber nicht lebe.
Nur bei Jan war das von Beginn an schwierig.
Er kommt auch jetzt gleich auf mich zu, reicht mir die Hand und sagt: »Hallo.«
Zum Glück hat er keine Zeitung in der Hand, nur eine abgetragene braune Aktentasche aus Lederimitat .
Es gehört zur Unauffälligkeit, ihm auch die Hand zu geben und »Hallo« zu sagen. Würde ich sie ausschlagen, wäre es eine viel zu offensive Haltung.
»Was hast du in den Ferien gemacht?«
»Nichts.« Er scheint keine Zeitung gelesen zu haben.
Von erneutem blauen Niesel (1973)
Als ich am ersten Tag vor der Klasse stand, mich vorstellte und in die Gesichter der neuen Mitschüler sah, fiel er mir schon auf. Es hatten einige der Schüler Farben. Ein Mädchen war rotorange, ein anderes von blassem Violett. Meistens waren es unklare graustichige Farben, nicht zu bezeichnen. Ich stand vor ihnen wie ein Farbenblinder vor diesen Heften mit
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